Kapitel [7]

3.6K 281 21
                                    

Kapitel 7 - Rot und egal

Ich wusste nie, wie es heißt, richtig zu leiden.

Ich war halb tot und zerquetscht gewesen, wurde wieder zusammen geflickt und bekam Medikamentencocktails verschrieben. Damals dachte ich, das sei Schmerz. Doch wahrer Schmerz war es, den ich nun spürte. Wahrer Schmerz konnte nicht mit Medikamenten betäubt werden.

Mein Herz wurde auseinander gerissen. Und es wurde nicht wieder zusammen genäht wie ich nach dem Unfall. Mein Herz war gespalten, zerrissen, blutig. Ich blutete. Meine Brust zog sich zusammen und versuchte, den Schmerz zu lindern. Vergeblich. Ich blutete. Meine Ohren rauschten. Mein Sichtfeld war verschwommen. Meine Kehle trocken und wund. Ich blutete, heulte und schrie. Schrie und heulte. Heulte und schrie. Und blutete.

~#~

Minutenlang.

~#~

Stundenlang.

~#~

Irgendwann vernahm ich sie. Seine Stimme. Er war hier. Mit roten, verheulten Augen und ungewaschenen Haaren, in Jogginghose und weiß-blauem Baseballshirt stand er vor mir. Er litt. Mit mir. Um ihr. Wegen ihr.

Das Einzige, das mich abhielt, ihn zu umarmen, war mein Rollstuhl. Der Rollstuhl. In ihm hatte ich gesessen und wurde drei Wochen lang von ihr herum kutschiert. Von ihr.

Ich hickste und wischte mir über meine Augen. Wie ich es hasste, zu weinen. Man sah stets wie ein Zombie auf Crack aus und die Stimme klang auch wie die eines Kleinkinds. Normalerweise weigerte ich mich zu reden, wenn ich weinen musste. Doch besondere Situation erzwangen besondere Handlungen.

»Joe? Kannst du... kannst du... mich...« Ich unterbrach meinen Satz kurzerhand, da mich ein Schluckauf überraschte. Hatte ich bereits erwähnt, dass ich stets Schluckauf bekam und ich mich dann noch dämlicher anhörte? Weitere Tränen liefen meine Wangen hinab und tropften auf meine Bettwäsche. Auf die Bettwäsche, auf der gestern Morgen mein Butterbrot landete, nachdem ich fast daran erstickt war. Weil sie mich erschreckte. Weil sie mich so früh weckte. Weil sie stundenlang über sinnlose Dinge redete und mich somit vom Schlafen abhielt. Weil sie meine beste Freundin war und mir trotz allem immer ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte. Weil sie da war, als alle anderen wegliefen. Weil sie mich akzeptierte. Weil sie so ein wunderbarer und einzigartiger Mensch war. Einfach, weil sie so war, wie sie war.

»Es tut mir leid, Susann«, flüsterte der rothaarige Junge und ließ sich ohne zu zögern neben mir auf mein Bett sinken. Ich schluchzte und hickste gleichzeitig, weshalb Joe kurz auflachte. Scherzhaft pikste ich ihm in die Seite, woraufhin er überraschenderweise seinen Arm um meine Schulter legte und mich so in seine Richtung zog. Vollkommen perplex ließ ich es geschehen und fand mich keine Sekunde später weinend in den Armen eines ebenfalls weinenden Jungen vor; genießen konnte ich diese Art von Umarmung kaum. Der Grund für unsere von Emotionen geprägte Situation war viel zu sehr präsent. Und zu schrecklich.

~#~

»Ich will hier raus.« »Und wo willst du hin, Susann? Du bist minderjährig und deine Eltern können dich zu Hause momentan noch nicht aufnehmen.« »Richtig und falsch. Ich bin mit 16 noch nicht erwachsen, dem bin ich mir durchaus bewusst. Allerdings weiß ich auch, dass meine Eltern mich nie aufnehmen werden können.« »Wie meinst du das?« »Meine Eltern könnten mich aufnehmen. Sie wollen es nur nicht. Ihr Ruf und ihr Ansehen sind ihnen wichtig. Wichtiger als ihr eigen Fleisch und Blut. Ich habe 16 – fast 17 – Jahre mit ihnen in einem Haus verbracht, ich müsste wissen, was für sie zählt. Meine Mutter ist eine dieser typischen Schicki-Micki-Tussen, die stets der High-Society nacheifern; mein Vater bringt das Geld und manchmal auch wichtige Termine zum Abendessen mit nach Hause. Da stört eine behinderte Tochter doch sehr, finden Sie nicht?« Ich sah meine Psycho-Tante an, während sie grübelnd in meiner Akte blätterte. Inzwischen müsste sie meine Akte auswendig können. Susann Lestington, 16 Jahre alt, gelähmt ab dem Bauchnabel. Meiner Meinung nach recht leicht zu merken. »Susann, deine Sicht der Dinge ist relativ pessimistisch und subjektiv. Und trotzdem auf eine seltsame Art neutral und realistisch. Ich weiß nicht. Allerdings... wo willst du denn sonst hin, wenn nicht zu deinen Eltern?« »Ins Heim oder so. Dahin, wo andere wie ich leben.« »In eine betreute Wohngruppe? Warum das?« »Sie können mir dort helfen.« »Deine Eltern können dir doch auch zu Hause helfen.« »Das bezweifle ich.« »Warum denn? Soweit ich informiert bin, bereiten deine Eltern alles für deine Ankunft vor. Sie werden und wollen dir helfen.« »Sie können es aber nicht, okay? Die Interessen meiner Mutter sind meilenweit vom Baden der behinderten Tochter entfernt.« »Susann. Warum willst du wirklich in diese Wohngruppe?« »Ich bin ihnen egal.« »Bist du nicht. Du denkst schon wieder-...« »NEIN. Ich denke realistisch. Meine Mutter mag Nagellack, Handtaschen, Klatsch und Tratsch; sie wird mich ignorieren.« »Niemand wird dich ignorieren. Sie sind immer noch deine Eltern.« »Ich bin ihnen egal. Egal, klar? Sie scheren sich einen Dreck um mich, trotz der Tatsache, dass ich ihr Kind bin. Ich will woanders hin. Hauptsache weg.« »Warum denn dann ausgerechnet dorthin?« »Man versteht mich. Man akzeptiert mich. Und ich bin nicht egal.« »Du bist weder egal noch irgendetwas dergleichen, Susann. Ich, als deine – wie nennst du mich immer? – Psycho-Tante, sage dir, dass du nicht egal bist. Sonst würden wir nicht hier sitzen und über dein zukünftiges Leben reden, oder?« Ich betrachte stumm meine Fingernägel, während sie mich über den Rand ihrer dicken Hornbrille hinweg ansah. »Susann, das ganze hier hat keinen Zweck. Du kannst gehen. Erstmal auf dein Zimmer.« »Und was ist mit-...« »Wir werden sehen, Susann. Wir werden sehen.«

~#~

Und das taten wir auch. Denn keine zwei Wochen später wurde es entschieden.

Ich musste wieder zu meinen Eltern ziehen. Egal, ob ich wollte oder nicht. Egal, ob meine Eltern die Nase gerümpft hatten und mich eher widerwillig in Empfang genommen hatten. Egal, ob ich willkommen war oder meine Eltern sich kaum um mich kümmerten.

Es war einfach schlichtweg egal.

**************
[25.11.15] ~Mα∂αмєPσттιηє.



Three.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt