An meine Garten-Tante

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Liebe Tante O.,

als ältere Schwester meiner Mutter und selbst kinderlos, hast Du Dich oft liebevoll um mich gekümmert, wenn es meiner Mutter mal wieder ganz schlecht ging. Du und dein Mann, Onkel R., ward beide ziemlich vernarrt in mich, soweit ich das beurteilen konnte. Das drückte sich in vielerlei Dingen aus, aber das schönste war, wenn ich im Sommer ein paar Wochen bei Euch verbringen durfte.

Ihr hattet einen wunderschönen, riesigen Garten mit einem großen Gartenhaus, in dem man von Frühjahr bis Herbst richtig wohnen konnte. Wir haben dort viele schöne Tage verbracht, an die ich mich gerne erinnere. Ich weiss nicht mehr alles ganz genau, ist ja auch schon ein Weilchen her, aber sehr gut erinnere ich mich, dass Du mir, wenn Du im Garten gearbeitet hast, alle Pflanzen erklärt hast, die Dir dabei untergekommen sind. Unter anderem auch die Apfel- und Birnenbäume, die alle so tolle Namen hatten, wie „Schöner von Paris", „Rambour", „Goldrenette" „Freiherr von Berlepsch", „Clapps Liebling" und die „Gute Luise". Im hinteren Teil des Gartens war der Geräteschuppen mit einer kleinen Werkstatt. Da gab es interessante Dinge zu finden, wenn ich dort ein bisschen stöbern durfte. Und es gab große Komposthaufen, eine riesige Brombeer- und Himbeerwildnis sowie ein kleiner Teich mit Fröschen und kleinen Fischen.

Ich bin gerne mit der Schubkarre, die noch keinen Ballonreifen hatte, über die gepflasterten Wege gefahren. Das hat vielleicht gescheppert, wie Donner von einem Sommergewitter. Mittags haben wir oft eine große Schüssel Salat gegessen, dazu Brot mit Camembert. Wahrscheinlich haben wir auch anderes gegessen, aber daran erinnere ich mich gut. Dein Salat hatte auch einen ganz besonderen Geschmack, den ich von zuhause nicht kannte. Ich habe den lange vermisst, bis ich selber einen Garten hatte und dort durch Zufall das Kraut gefunden habe, von dem dieser Geschmack kam: Liebstöckel oder auch Maggikraut genannt.

Abends kam Onkel von der Arbeit und dann gab es richtiges Essen. Du warst eine Superköchin, denn bevor Du Onkel geheiratet hast, warst Du in einem Fabrikantenhaushalt als Dienstmädchen angestellt und warst dort auch für das Kochen zuständig. Nach dem Abendessen saßen wir oft noch lange unter der Pergola des Häuschens und haben 66 oder „Mensch ärgere dich nicht" gespielt. Einmal in der Woche war Baden angesagt. Dann hast Du eine große Zinkbadewanne aufgestellt, den Holzherd angeheizt und heißes Wasser gemacht. Das Baden war ja ok, aber Haare waschen mochte ich anscheinend nicht. Onkel R. erzählte oft, die Geschichte, dass ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hätte. Auf Hochdeutsch und per „Sie" hätte ich gebettelt, dass Du mir das ersparen solltest.

Als ich 13 war, ist das Glück zu Ende gegangen. An einem trüben Novembertag wurde Onkel R. auf dem Zebrastreifen von einem Auto angefahren und tödlich verletzt. Für mich war es ein großer Verlust, für Dich eine Katastrophe. Als meine Eltern mit mir am Abend zu Dir kamen, war das noch so irreal, aber es muss mich furchtbar mitgenommen haben. Du hat mir selbstgemachten Saft von Schwarzen Johannisbeeren zu trinken gegeben, den ich bald darauf wieder von mir gab. Das war so tief in mir drin, dass ich Jahrzehnte lang den Geschmack von Schwarzen Johannisbeeren nicht ertragen konnte. Du musstest den Garten aufgeben, was für Dich sehr schlimm war und was Du bis zu Deinem Tod nicht überwunden hast.

Liebe Tante O., ich danke Dir für alles Schöne und Gute, das Du mir hast angedeihen lassen.

In Liebe Dein M.


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