Ungeschriebene Briefe

An einen ungerechten Lehrer

Hallo Herr P.,

Sie waren mein Deutschlehrer in der Oberstufe und ich erinnere mich mit schlechten Gefühlen an Sie. Ich frage mich echt, was Sie gegen mich hatten. War es weil ich in Ihren Augen ein Freidenker war, der auf Ihre christliche Grundhaltung, die Sie zwar immer im Mund führten, aber nach meiner Erfahrung nicht lebten, nicht viel gab? Weil ich immer fröhlich und zu Streichen aufgelegt war und mir vordergründig nichts aus den schlechten Noten machte, die Sie mir verpassten? Wie jkann es sein, dass ein Schüler in Deutsch von einem Jahr zum anderen (in der Oberstufe) um zwei Noten abfällt. Sie begründeten die schlechten Noten als erzieherische Maßnahme, aber es war Rache oder was weiß ich, auf jeden Fall nicht gerecht.

Auch Sie waren, wie Herr V., aufgrund einer Kriegsverletzung behindert, aber im Gegensatz zu ihm, waren Sie verbittert und anscheinend gönnten Sie uns unsere Lebensfreude nicht. Einen Mitschüler, der noch etwas kompromissloser war als ich, wollten Sie gar nicht mehr unterrichten. Das haben wir Ihnen ziemlich übel genommen und wir übten „fürchterliche Rache". In Frei- und Religionsstunden malten wir Comics mit Ihnen als Antiheld, der am Ende jeder Geschichte mindestens verunglückte oder starb. Alle Lektürefiguren, die wir behandelten verkörperten Sie und es entstanden in der Zeit einige zig Zeichengeschichten. Nach dem mündlichen Abi haben wir die besten davon in den Wechselrahmen im Gang vor dem Lehrerzimmer ausgehängt, in denen normalerweise Porträts von Geistesgrößen gezeigt wurden.

Unsere Klasse war überdurchschnittlich mathematisch und naturwissenschaftlich orientiert: bis auf einen haben wir alle Mathe, Physik, Ingenieurwissenschaften oder Chemie studiert. Dass wir im Abi alle nur Vierer oder noch schlechter in Deutsch hatten, ist trotzdem nicht verständlich, aber hat keinen wirklich interessiert. Leider hat es dem einen oder anderen einen Preis verhagelt, aber heute ist das egal. Mein größter Triumph war, als mein Professor nach Abgabe meiner Diplomarbeit sagte, dass ich wohl eine sehr gute Deutschnote gehabt haben müsse, so lebendig und flüssig wie meine Arbeit geschrieben sei!

Also Herr P., ruhen Sie in Frieden und seien Sie gewiss: ich habe alle Comics über Sie noch und zum Goldenen Abi werde ich sie kopieren und binden und jedem Klassenkameraden ein Exemplar schenken, auf dass ihr Andenken nicht verloren geht!

M.