An die Mutter meines Jugendfreundes

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Liebe E.,

solange Du gelebt hast, habe ich Dich nie mit Deinem Vornamen angesprochen, sondern immer respektvoll mit „Frau P.". Komisch, oder? Schließlich bin ich ja auch noch viele Jahre zu Euch gekommen, als ich schon erwachsen war. Aber Du hast mir nie das „Du" angeboten, obwohl Du mich immer geduzt und meinen Namen Du auch immer verniedlicht hast mit dem schwäbischen Diminutiv. Es hat mich nie gestört, es war in Ordnung für mich. Ich spürte und ich weiß es heute, dass Du mich trotzdem sehr mochtest. Ich war gern gesehen bei Euch und ich war gerne bei Euch, um dem Elend zu Hause für ein paar Stunden zu entkommen. Insofern warst Du wahrscheinlich meine Lebensretterin.

Ein Mittagessen und ein aufmunterndes Wort waren immer parat. Auch mal eine Ermahnung, wenn G. und ich allzu sehr über die Stränge geschlagen hatten und Du es mitbekamst. Zum Sonntags-Ausflug oder ins Café am Mittwochnachmittag durfte ich immer mit, wenn ich da war – und ich war oft da. In späteren Jahren durfte ich mit ins Theater. Und das meiste davon durfte mein Vater nicht wissen, weil es sein Stolz nicht zugelassen hätte.

Später, als ich studierte, bin ich manchmal in meine Heimatstadt gekommen und habe Euch und nicht meine Eltern besucht. Da gab es keine blöden Kommentare wegen meiner langen Haare und keine lästigen Fragen hinsichtlich meiner Studienfortschritte. Aber, dass ich nicht verhindert habe dass G. sich eine „leichtfertige" Freundin angelacht hat, das hast Du mir schon ein bisschen zum Vorwurf gemacht. Dass I. leichtfertig war, hast du daraus geschlossen, dass sie G.'s Wäsche gewaschen hat, auch die Unterwäsche. Das macht ein anständiges Mädchen nicht, meintest Du.

Überhaupt warst Du ziemlich prüde, selbst für die damalige Zeit. Als die Zeitschriften, die Du immer fürs Wartezimmer gekauft hast, begannen halbnackte Frauen abzubilden, bei denen alles wesentlich sogar noch mit schwarzen Balken abgedeckt war, hast Du solange gesucht, bis Du andere Zeitschriften fandst, die „sauber" waren. Gott sei Dank, hast Du nie mitgekriegt, mit was G. und ich uns zuweilen beschäftigt haben.

Liebe E., ich möchte Dir von ganzem Herzen danken, für alles Gute, was Du mir in fast zwanzig Jahren hast angedeihen lassen. Für Deine unauffällige Liebe, für die Geduld und die Nachsicht, wenn wir wegen mangelndem Fleiß und anderer Interessen schlechte Noten produziert haben und die vielen schönen Dinge, die ich durch Dich und Deinen Mann kennenlernen durfte.

In liebevollem Angedenken

Dein M.le



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