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Der Spiegel ist die einzige Uhr in meiner Welt.

Meine Welt ist nicht besonders groß. Im Gegenteil, sie ist ziemlich klein. Um genau zu sein, besteht sie gerade mal aus ungefähr 16 Quadratmetern schmutzige Fliesen und vier graue, nicht weniger befleckte Steinwände.

Ich nenne die Zelle mein Zuhause, seit ich mich erinnern kann.

Mir fehlt jegliche Erinnerung daran, wie ich hier hereingekommen bin. Oder warum. Meine Vergangenheit ist so ungewiss wie die Zukunft; ich komme von nirgendwo her und gehe ins nirgendwo.

Fakt ist, dass ich den Großteil meines Daseins in einer schmutzigen, grauen Zelle friste.

Ich kenne jeden einzelnen Stein hier, jede Einbuchtung, jede scharfe Kante. An den Tagen, an denen es mir gut geht, messe ich die Wände mit Schritten ab und fahre mit den Fingern an dem rauen Stein entlang.

An den Tagen, an denen es mir schlecht geht, sitze ich mit angezogenen Knien auf dem winzigen Bett und starre auf den Boden. Ich weiß nicht, was Stunden sind, oder Sekunden, oder Minuten. Da ist keine Uhr in meinem Zimmer, nirgendwo in der ganzen Anstalt. Aber ich weiß, was Ewigkeiten sind. Zeit vergeht nur, wenn man weiß, dass sie es tut; ansonsten ist man der Unendlichkeit hilflos ausgeliefert.

Der einzige Weg für mich, die Zeit zu erkennen, ist der zerbrochene Spiegel. Im Grunde ist es nur ein besonders großer Splitter von dem, was früher bestimmt einmal ein richtiger Spiegel war. Aber es ist der Teil, der noch an der Wand hängt, und das ist mir Luxus genug.

Die meiste Zeit - so wie jetzt - ist er verhüllt. Irgendwann, als ich es nicht mehr aushalten konnte, Ahnungslos zu sein, habe ich ein Stück meines Lakens abgerissen und über den Spiegel gehängt.

Und dann habe ich gewartet. Und gewartet. Und gewartet. Viele Tage, zu viele, um sie zu zählen. So lange, bis ich den Spiegel fast vergessen hatte.

Als ich das nächste Mal in den Spiegel geschaut habe, wusste ich, dass viel Zeit vergangen war. Meine Gesichtszüge hatten sich verändert und ich konnte mein ganzes Profil erkennen, ohne mich auf die Fingerspitzen stellen zu müssen. Fasziniert war ich mit den Fingerspitzen die Ränder meines Gesichts nachgefahren. So sah man also aus, wenn Zeit verging.

Das ist sehr lange her. Damals war ich viel jünger als jetzt, und seitdem ich den Spiegel als Uhr benutze, hat sich mein Aussehen viele Male verändert und mich jedes Mal aufs Neue überrascht.

Mein Blick klebt wie gebannt an dem Stück Stoff an der Wand.

Ist es wieder Zeit...?

Ich trete einen Schritt auf den Spiegel zu und bleibe dann unschlüssig stehen.

Was, wenn ich zu früh bin und nichts sich verändert hat? Zweimal ist mir das bis jetzt schon passiert, und jedes Mal war ich riesig enttäuscht, wissend, dass ich nun wieder Unendlichkeiten abwarten müssen würde.

Nein. Ich drehe mich weg. Ich sollte noch warten; sollte nicht so ungeduldig sein.

Doch der Gedanke an mein Spiegelbild lässt meinen Entschluss wanken. Nur wenige Schritte und eine Armbewegung trennen mich davor, auf die Uhr zu schauen. Wovor habe ich eigentlich solche Angst?

"Nur ein kleiner Blick", wispere ich mir zu und drehe mich nun doch wieder zu dem Spiegel.

Noch ganze zwei Male halte ich inne und will es mir beinahe anders überlegen, doch dann siegt die Neugier.

Ich will wissen, wieviel Zeit vergangen ist. Selbst wenn sich nicht allzu viel verändert hat - das ist schließlich auch eine Information.

In einer einzigen, fließenden Bewegung trete ich vor und reiße den Stoff von der glatten Oberfläche.

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