Als jemand plötzlich meine Flügel streift - sie sind zugegebenermaßen sehr sperrig - zucke ich so heftig zusammen, dass der Löffel mit einem leisen Klirren gegen den Tellerrand stößt.
Ich wage es kaum, den Kopf zu drehen, als sich eine bekannte Stimme an meinem Ohr meldet.
"'tschuldiugung, Sera. Hab ich dir weh getan?"
Ein Stein fällt mir vom Herzen. Diese Stimme kenne ich - mit ihr verbinde ich keine Angst.
Es ist Robbie. Eine der jüngsten in diesem Gemenge aus Irren und Verunstalteten, und eigentlich auch einer der normalsten. Ich schätze ihn vielleicht auf zwölf Jahre - ich weiß es nicht genau. Zumindest, was seine Psyche angeht, ist er ganz okay.
Man munkelt, Robbie wäre eigentlich in der Lage, zu fliegen; eine Art Superman.
Aber wenn man Robbie ansieht, dann muss man nicht besonders hell sein, um zu sehen, dass er es nicht schaffen wird.
Robbies Körperumfang ist sicher mindestens der doppelte von meinem. Zwar ist er zwei Köpfe kleiner, aber der Junge ist unheimlich...kräftig. Niemand in dieser Anstalt ist besonders gut genährt; außer Robbie. Sie haben mal versucht, seine Essensrationen zu verkürzen: Eine Katastrophe. Ich glaube, das ist ein Ereignis, an das sich niemand gerne erinnern will, und wir reden nicht darüber.
Als ich also den Kopf wende, um Robbie zu antworten, ist er schon zwei Tische weiter und drängt sich zwischen den Stühlen durch. In einem Hand hält er seinen Teller, der noch nicht mal ganz aufgegessen ist - zwischen jedem Schritt löffelt er sich etwas in den vollen Mund - aber offenbar ist er schon auf dem Weg, Nachschlag zu holen. Seine Frage an mich hat er bereits vergessen.
Seufzend will ich mich gerade wieder meiner Mahlzeit zuwenden, da werde ich wieder unterbrochen.
"Na, wenn das nicht mein Lieblingsengelchen ist."
Mit einem ätzend hohen Geräusch, von dem sich mir alle Federn sträuben, zieht Vincent einen der Plastikstühle über den Boden und lässt sich schwer darauf fallen. Er weiß genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn er das tut - und wenn er so nah sitzt, dass unsere Knie sich berühren.
Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Wangen sich röten, und ausgerechnet jetzt fällt mein Blick wieder auf mein verzerrtes Spiegelbild auf dem Löffel. Nicht gerade das, was ich brauche, um mein Selbstbewusstsein zu stärken.
Eine weitere Person gesellt sich zu uns, und als ich sie sehe, kann ich mir gerade noch einen frustrierten Aufschrei verkneifen.
Iris und Vincent. Robbie nennt sie auch das Giftpaar.
Die beiden sind relativ unterschiedlich, aber vielleicht passen sie deswegen auch so gut zusammen:
Iris ist die Schönheit. Die hohen Wangenknochen, die schmale Nase und ihre vollen Lippen zeichnen sie eindeutig aus, aber das wahnsinnige sind ihre Augen. Sie haben eine irre Farbe; beide sind sie grün mit Sprenkeln von Blau und Gold, und sie sind etwas unterschiedlich. Umrahmt wird das ganze von langen, dichten Wimpern - das macht ihren Blick unglaublich intensiv, und wenn sie einen ansieht, fühlt man sich so klein, so unbedeutend. Wie ein schmutziger kleiner Käfer.
Sie hat im Übrigen auch eine der seltsamsten und meiner Meinung nach schönsten Fähigkeiten, auch wenn ich das nie in ihrer Hörweite zugeben würde: Sie kann das Licht brechen und die Wellenlänge manipulieren, heißt es. Also Trugbilder erzeugen, optische Täuschungen erstellen.
Aber sie ist farbenblind.
Vincent ist äußerlich ihr komplettes Gegenteil. Neben der schönen, edlen und strahlenden Iris kommt er noch verwegener, rebellischer rüber denn je. Der ausgeprägte Kiefer und sein schiefes Lächeln sind sein Markenzeichen, neben den dunklen Locken und den olivgrünen Augen. Der Rest ist gar nicht so besonders; es ist eben hauptsächlich seine Ausstrahlung.
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We could be
Teen FictionSeraphina hat Flügel, aber sie sind gebrochen. Vincent kann Dinge mit seinen Gedanken bewegen, aber nur, wenn er sich konzentrieren könnte. Robbies Übergewicht hindert ihn am Fliegen und Alessandra kann die Zukunft vorhersagen - aber sie ist taubstu...