Die Zeit vergeht quälend langsam oder sehr schnell, ich weiß es nicht. Ich versuche, mir das Ticken einer Uhr vorzustellen, wie sie mit ihren Zeigern die Zeit in gleich große Stücke teilt, aber es will nicht funktionieren. Ich vergesse, welcher Zeiger was anzeigt; ich verhaspele mich beim Zählen und die Sekunden, die ich mir einbilde zu hören, sind alle unterschiedlich lang.
Wie oft habe ich das versucht - die Zeit zu messen? Und wie oft bin ich gescheitert?
Missmutig werfe ich den dünnen Stoff, der provisorisch als meine Decke dient, zur Seite und stehe auf.
Manchmal bekomme ich das Gefühl, dass die Wände auf mich einstürzen. Dass sie sich langsam, aber sicher und unaufhaltsam auf mich zubewegen, bereit, mich einzuengen, bis mir die Luft zum Atmen wegbleibt.
Jetzt ist es wieder da. Mein Herz klopft, ein riesiges Gewicht scheint sich auf meine Lungen zu senken. In einem Versuch, mich zu schützen, schlinge ich meinen rechten Flügel schützend um meinen Körper - der linke bleibt in einem seltsamen Winkel abgewinkelt von meinen Schultern, auch wenn er sich ein kleines bisschen weiter zu mir neigt.
Ich weiß, was jetzt passieren wird. Es passiert immer als Konsequenz auf meine Angst, erdrückt zu werden - und in letzter Zeit immer öfter. Obwohl ich genau weiß, wie es ablaufen wird, wird es nie besser.
Zuerst kommt die Angst. Ohnmächtig, alles verdrängend. Wände stürzen auf mich ein, ich werde von tausend Tonnen Gestein und Erde zusammengepresst, ohne sterben zu können: Ich kann nichts anderes tun, als die Hände auf meine Ohren zu pressen, meine Flügel um mich anzuziehen und mich klein zu machen, so klein, dass ich zwischen den Ritzen der Steine zu entkommen glaube.
Wenn die Angst ihren Höhepunkt erreicht hat, zum Zeitpunkt, wo ich sie nicht mehr aushalten kann, wo ich glaube zu sterben - dann beginnt sich ein Schrei in meinem Inneren zu formen. Verzweifelt, wütend. Erst wie ein kleiner Funken tief in meinem Herzen, dann plötzlich eine anschwellende Flamme, die alles in mir verzehrt.
Die Wut und der Schrei sprengen die Mauern, die mich fesseln, und ich werde wütend. Wütend, weil ich so eingepfercht lebe, wütend, weil ich nicht weiß, was ich bin. Wütend, weil alles, was ich glaube zu wissen, aus einem Stapel alter Bücher, Filme und CDs stammt, von denen ich nicht weiß, ob sie Teil einer Lüge sind oder Teil eines Vermächtnis.
Ich weiß überhaupt nichts.
Die Wut schwillt an, und ich verliere meine Selbstbeherrschung. Alles ist wie in roten Nebel gehüllt, und ich weiß ehrlich gesagt nie genau, was ich tue; aber was ich weiß ist, dass danach die Haut an meinen Handknöcheln aufgeschlagen ist - aus den Blutspuren an der Tür schließe ich, dass ich wohl mich aller Kraft dagegen getrommelt und getreten haben muss. Ich weiß, dass mein linker Flügel mich danach sogar mehr schmerzt als er ohnehin tut, als hätte ich versucht, mit ihm zu fliegen und mit ihm zu schlagen, und ich weiß, dass meine Stimme danach nur noch ein Flüstern ist, als hätte ich geschrien und gebettelt.
Wenn der Nebel sich lichtet, dann weiß ich, dass ich müde werde. Und erschöpft, und erschlagen, und vor allem: traurig.
Ich erstarre mitten in der Bewegung und fange an zu schluchzen. Erst zucken nur meine Schultern, dann zittert mein ganzer Körper, meine Federn beben und sträuben sich, ich sinke auf den Boden und ziehe die Knie an meine Brust. Der Stoff meiner Kleidung wird nass von meinen Tränen, und noch Stunden später kann ich das Salz auf meinen Lippen schmecken und riechen.
Wenn meine Fingerknöchel aufgeschlagen, meine Kehle rau und meine Augen fast gänzlich zugeschworen sind, dann entweicht meine ganze Kraft wie aus einem beschädigten Reifen in den Filmen.
Schlaff lasse ich mich auf das harte Bett fallen, bereue den Ausbruch, dessen schmerzhafte Folgen ich doch kenne und den ich daher hätte verhindern können. Ich beschäftige mich mit der Sinnlosigkeit dieses Ausbruchs und seiner altbekannten Phasen in Länge und Breite, wie ich es immer tue. Am Ende verspreche ich mir, mich das nächste Mal unter Kontrolle zu haben und mir das letzte bisschen Würde zu bewahren, das ich noch besitze.
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We could be
Teen FictionSeraphina hat Flügel, aber sie sind gebrochen. Vincent kann Dinge mit seinen Gedanken bewegen, aber nur, wenn er sich konzentrieren könnte. Robbies Übergewicht hindert ihn am Fliegen und Alessandra kann die Zukunft vorhersagen - aber sie ist taubstu...