~2~ High Heels, ein Kiesweg und ein halbes Dutzend Koffer

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Zur selben Zeit warfen die Geschwister Ricarda und Odilia hektisch Kleidungsstücke in ihre Koffer. Sie hatten das Packen mal wieder bis zum letzten Moment hinausgezögert. Die Zehnjährige Odilia hatte den ganzen Morgen damit verbracht im Garten gefrorenen Tau von den Grashalmen zu lecken. Das kleine Mädchen vermisste den Winter und fand Gefallen an diesem grauen Morgen.

Ricarda steckte kopfüber im Schrank und suchte verzweifelt nach sauberer Unterwäsche. Eine einzelne Socke segelte aus dem Schrank und verfehlte den braunen Wuschelkopf von Odilia nur um Zentimeter. „Ich weiß genau, dass ich hier ganz unten noch eine gelbe Unterhose hatte", kam die dumpfe Stimme der Zwölfjährigen aus dem Schrank.

„Schau mal lieber unten im Waschraum", murmelte Odilia geistesabwesend, während sie ihr weißes Plüscheinhorn ganz oben auf den Wäscheberg in den Koffer warf. Als sie wieder nach oben blickte, sah sie gerade noch Ricarda an ihr vorbeiflitzen, wahrscheinlich auf dem Weg um das Rätsel um die verschwundene Unterhose zu lösen. Achselzuckend strich sich Odilia ihre geflickte Cordhose glatt. Da beinahe jedes Kleidungsstück von ihr, nach einem Tag tragen, geflickt oder mit aggressiven Reinigungsmitteln behandelt werden musste, kauften ihr ihre Eltern keine neuen Sachen mehr. Man hielt es für Verschwendung bei dem wildgewordenen Wuschelkopf Odilia.

Sekunden später rauschte Ricarda wieder in das Zimmer, bewaffnet mit einer gelben und einer roten Unterhose. Siegessicher schwenkte sie die Unterwäsche über ihrem Kopf „Ha!" entfuhr es ihr, während Odilia Beifall klatschte. Die beiden Unterhosen landeten zielsicher im noch fast leeren Koffer von Ricarda. „Reicht", verkündete diese, beugte sich über ihren Koffer und verschloss ihn fest. Sie steckte sich eine Spange in ihr widerspenstiges braunes Haar, das nur eine Nuance dunkler war, als Odilias und zog den Koffer aus dem Zimmer.

Ihre kleine Schwester folgte ihr mit ihrem eigenen viel zu voll gestopftem Koffer.

Keuchend schleiften die beiden Schwestern ihre Koffer und ihr Reitequipment die steile Straße hoch zum Ponyhof ihres Großvaters. Obwohl sie mehrere Tage in der Woche hier verbrachten, freuten sie sich darauf, zum ersten Mal mit den anderen Ferienkindern zwei Wochen auf dem Reiterhof zu übernachten.

۩

Spät am Abend konnte Ariana endlich ihrer Modenschau den Rücken kehren. Sie war nicht dazu gekommen sich umzuziehen, weil sie noch vor Einbruch der Dunkelheit den Reiterhof hatte erreichen wollen. Also stöckelte sie in ihrem karibisch gemusterten Kleid und hohen Pumps über den mit Kies aufgeschütteten Parkplatz einmal um ihr Auto zum Kofferraum. Sie seufzte, denn der Nebel machte auch hier keinen Halt. Hier auf dem Land war er sogar noch stärker. Mit einem lauten „Rums" ließ sie ihren Koffer auf den Boden knallen. Endlich, endlich war eine lange Woche voller Modenschauen und schmerzenden Füße zu Ende und ihr Urlaub stand an. Falls man das so nennen konnte, wenn man auf einem Reiterhof mitten im Nirgendwo ein Horde kleiner Mädchen beaufsichtigte und in aller Herrgottsfrühe Reitunterricht gab. Zwei Wochen Reiterferien mit Kindern! Wo andere sich nun vielleicht entsetzt abwandten, freute sie sich unbändig. Nur der Nebel trübte ihre Stimmung ein wenig. Obwohl eigentlich Hochsommer war, fröstelte sie in ihrem kurzen Kleid. Doch das war jetzt egal. Zufrieden betrachtete sie die Nachricht auf ihrem Handy. Sie hatte ihrer Modelagentur ACE-Models ein Foto von der Nagelschere in Celias Handtasche geschickt und Stella, die Leiterin der Agentur hatte versprochen mit Bruno und Celia zu sprechen. Ariana strich sich ihre langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Sie hatte Glück im Unglück gehabt. Obwohl ihr natürlich bewusst war, dass Celias Rache umso schlimmer kommen könnte. Aber das war jetzt erst mal egal.

Auf einmal wurde Ariana bewusst, dass sie vor genau zehn Jahren, zum allerersten Mal auf dem Reiterhof „Lautersheimer Gutshof" gewesen war. Damals hatte ihre geliebte Oma Helga noch gelebt und war fast jede Ferien mit ihr auf den Hof gefahren. In einer der vielen schnuckeligen Ferienwohnungen hatten sie immer einen wundervollen Urlaub verbracht. Als Ariana älter geworden war, hatte sie sich darauf verlegt in den Schulferien als Betreuerin für die Reiterferienmädchen zu arbeiten. Schnell wischte sie die traurigen Gedanken an ihre verstorbene Oma fort und konzentrierte sich auf das Positive an diesem Tag. Sie sah endlich ihre Reitschüler und Freundinnen wieder, die sie seit den Osterferien nicht mehr gesehen hatte. Wie aufs Stichwort flog die Gartentür auf.

Odilia rannte kreischend durch den Garten auf den Parkplatz zu, dicht gefolgt von ihrer Schwester. „Ariiiiii!" Sie warf sich in Arianas Arme und quietschte vor Freude, als Ariana sie im Kreis durch die Luft wirbelte, so dass ihre braunen Locken durch die Luft flogen.

Lachend stellte Ariana das kleine Mädchen wieder auf die Füße und widmete sich der Begrüßung ihrer großen Schwester. „Rici!" Sie zog Ricarda in ihre Arme. Während sie sie fest an sich drückte, klebte Odilia weiterhin an ihrem linken Bein.

„Odilia, jetzt lass mal los", beschwerte sich schließlich Ricarda bei ihrer Schwester, wobei sie Odilia mit dem Fuß beiseite stieß, um näher an Ariana heranzukommen.

„Ari, Ari", Odilia packte Arianas Hand und schüttelte sie ungestüm. „Letzte Woche bin ich zehn geworden! Stell dir vor, ich habe ein Pony geschenkt bekommen! Du musst es dir unbedingt ansehen!"

„Mach ich ganz bestimmt", grinsend verstrubbelte Ariana Odilias Lockenkopf.

„Oh übrigens, es sind ein paar Neue angekommen. Zwillinge! Die musst du dir auch ansehen!"

„Oh. Cool. Und wer, den wir kennen ist diesen Sommer noch da?"

Ricarda zählte die Namen an ihren Fingern ab. „Außer uns Dreien: Lea, Daria, die beiden Zwillinge ... oh und die Jungs natürlich."

In diesem Moment flog erneut die Tür zum Garten auf und zwei Jungen versuchten sich gleichzeitig durch den Türrahmen zu quetschen. „Ariana!", rief Julius.

„Ari, endlich!", schrie Paul und die beiden Brüder stürmten auf sie zu.

„Lieber Gott, hab Erbarmen", murmelte Ariana, während sie sich die Haare hinter die Ohren strich. Sie sah sich um. Es gab keine Fluchtmöglichkeiten und verstecken konnte sie sich auch nicht mehr. Dafür war es zu spät.

Im nächsten Moment prallten die beiden Jungs mit der Wucht eines 40-Tonners gegen sie.

Ariana riss es von den Füßen. „Ich hab euch auch vermisst Jungs", murmelte sie unter Julius T-Shirt hervor. „Ihr seid ja echt groß geworden."

„Und schwer", fügte Ricarda mitfühlend hinzu.

„Du kommst genau richtig!" Julius setzte sein strahlendstes Lächeln auf. „Es gibt gleich Abendessen."

Ricarda und Odilia zogen Ariana wieder auf die Beine. „Fantastisch Jungs." Sie klopfte sich ihr Kleid ab. Dann fuhr sie Paul mit einer Hand durch seine hellbraune Igelfrisur. Meine Güte, diese beiden würden in einigen Jahren zu echten Herzensbrechern heranwachsen mit ihren großen, frechen Augen und super durchgestylten Haaren. Paul, der jüngere von beiden, lachte und schlug nach ihrer Hand. Mit seinen zehn Jahren, verhielt er sich erstaunlich erwachsen, was wahrscheinlich an seinen zwei großen Brüdern lag.

„Abmarsch!", kommandierte Julius. Er hatte sich bereits zwei von Arianas vier Koffern unter den Arm geklemmt. „Mann du hast ja wieder für 2 Jahre gepackt, Ari und nicht für 2 Wochen!"

„Bitte? Das ist doch nur mein Handgepäck. Meine Klamotten sind noch im Wagen."

Julius riss die Augen auf.

„Kleiner Scherz", Ariana kicherte. „Weiß nicht was ihr habt, ich finde ich habe ganz klein und sparsam gepackt."

„So findest du?", murmelte Ricarda und folgte ihrer Freundin nach drinnen in den Speisesaal.

Animal Crystal Part 1 - Rise of PantheonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt