Prolog

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Harry

Harry ließ seine Augen geschlossen und tat so als wäre er noch im Tiefschlaf. Die Person, die in seinem Zimmer war, gab sich nicht gerade viel Mühe leise zu sein, was nur eins bedeuten konnte: Gemma. Harrys Schwester hatte noch nie viel Rücksicht auf die Schlafbedürfnisse anderer genommen und sie machte auch jetzt keine Ausnahme. "Harry", säuselte sie in sein Ohr, "Harry, ich weiß, dass du wach bist, also mach die Augen auf, ich will mit dir reden"

Harry atmete tief durch, öffnete sein linkes Auge einen Spalt breit und sah in die großen Augen seiner Schwester, deren Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt war. Er stöhnte und drehte sich auf die andere Seite.

"Warum weckst du mich so früh? Ich will noch pennen, verdammt!", maulte er in sein Kissen. Gemma zog ihm die Decke weg und rüttelte ihn durch. "Früh? Ich glaube du spinnst, es ist gleich 12:00 Uhr!"

"Sag ich ja, viel zu früh", muffelte Harry sie an und versuchte sich die Decke wieder zu angeln - vergeblich. Gemma zog sie weg und schmiss sie auf einen Haufen Dreckwäsche in die Ecke. "Es reicht, Harry, seit sechs Monaten bist du wieder zu Hause und du hängst nur rum! Ich dachte, du wolltest Songs schreiben? Bist du nicht deswegen hier? Oder willst du dich einfach nur von Mom betütteln lassen?"

Jetzt war Harry eh wach, also sprang er auf und zog sich aus dem Schrank ein frisches Shirt. "Ich lasse mich doch nicht betütteln. Mom hat sich noch nicht beschwert, was kümmert es dich dann?"

"Entschuldige, aber du bist mein Bruder und ich mache mir Gedanken um dich und Mom macht sich Sorgen"

"Sorgen, worüber denn?", fragte Harry, als er sich seine Jogginghose anzog.

"Sie macht sich Sorgen, weil du seit dem letzten Termin mit den Jungs nur noch in deinem Zimmer hockst. Du singst nicht, du schreibst keine Songs, hängst bis tief in die Nacht am Computer, nur um dann am nächsten Tag bis in die Puppen zu pennen. So geht das doch nicht weiter, Harry! Du verplemperst deine kostbare Zeit mit Nichtstun"

Harry wollte gerade zu einem Verteidigungsschlag ausholen, ihr erklären, dass er noch ewig Zeit hatte, dass er nicht einfach nur rumhing, dass er heute anfangen würde mit dem Schreiben... doch innerlich wusste er, dass das alles nur Lügen waren. Die Wahrheit war viel schlimmer.

"Ich kann nicht", sagte er kleinlaut.

"Was kannst du nicht?"

"Ich kann keine Songs schreiben!", pfefferte er ihr entgegen, "Ich habe es versucht. Immer und immer wieder, es kommt nur Müll oder gar nichts dabei heraus. Ich weiß nicht was ich tun soll, Gemma, ich versuche mich zu entspannen, aber ich kriege die alten Songs nichts aus meinem Kopf. Ich versuche mich im Internet abzulenken und finde immer wieder Artikel über One Direction, Interviews, Bilder, Videos! Ich hab einfach das Gefühl, dass ich den Absprung nicht schaffe. Ich bin so müde und ich kann einfach nicht mehr. Je mehr ich es versuche, desto weniger schaffe ich es kreativ zu sein. Ich brauche... ich weiß noch nicht mal was ich brauche"

Zu Harrys Überraschung nickte sie und nahm ihn in den Arm. "Das hab ich mir fast schon gedacht", sagte sie in sein Ohr, "Aber mir ist da ein Gedanke gekommen, wie du den Absprung wie du es nennst vielleicht doch noch schaffen kannst" Harry sah sie skeptisch an. Die Ideen seiner Schwester waren manchmal ziemlich verrückt. "Gemma, bitte kein Selbstfindungstrip, ja?" Sie lachte "Doch! Genau das! Aber vielleicht nicht ganz so wie du es dir vorstellst. Ich hab mir gedacht, dass du raus musst aus England. Einfach mal weg. Irgendwohin, wo dich keiner kennt. Wo du einfach mal als normaler Mensch lebst" Harry legte den Kopf schief und sah sie noch skeptischer an. Irgendwohin, wo ihn wirklich keiner kannte? Wollte sie ihn in die Antarktis schicken? Gemma zog die Augenbrauen kraus und sah ihn missbilligend an. Sie schien seine Gedanken erraten zu haben. "So berühmt bist du auch wieder nicht, Harry, krieg dich wieder ein. Ich habe nicht an Hintertupfingen gedacht"

"Wohin denn dann?", fragte Harry genervt und sie grinste. "Ich dachte, wir gehen einfach in Moms Arbeitszimmer, dort hängt doch die Europakarte an der Wand. Du weißt schon, wo sie immer die Nadeln reinpiekst für die Orte, die sie schon gesehen hat" Harry ahnte was sie vorhatte "Und du willst, dass ich blind eine Nadel in die Karte stecke und dann dort hinfahre" Gemma nickte begeistert. Harry rollte mit den Augen. "So einen Blödsinn kannst auch nur du dir ausdenken. Das ist doch bescheuert. Als ob mir das helfen würde", er löste mich aus ihrer Umarmung. Gemma blieb hartnäckig. "Was hast du zu verlieren, hä? Wenn es nichts bringt, kannst du ja wieder zurückkommen! Aber ich bitte dich es wenigstens auszuprobieren. Nur einen Monat lang, bitte!"

"Warum willst du das unbedingt?"

"Ganz einfach. Du machst uns wahnsinnig. Sorry, wenn ich dir das so sage, aber es ist so. Mom macht sich die ganze Zeit Sorgen darüber, was mit dir ist. Sie überlegt schon mit dir über eine Therapie zu sprechen. Wenn du ein Projekt hättest und sei es noch so merkwürdig, würde es ihr mit Sicherheit besser gehen"

Harry schüttelte langsam den Kopf. Das war keine gute Idee - im Gegenteil! Es war eine totale Schwachsinnsidee. Warum sollte es ihm woanders besser gehen? Allerdings war der Gedanke allein zu sein und Abstand zu gewinnen verlockend und mit seiner Mom über eine Therapie zu diskutieren war das Letzte worauf er Bock hatte, auch wenn er innerlich wusste, dass er es vielleicht sogar nötig hätte. Doch warum sollte er nicht vorher etwas anderes ausprobieren.

"Okay", hörte Harry sich selbst sagen.

Gemma riss die Augen auf und fiel ihm um den Hals. "Du machst es? Wirklich?"

"Ja doch!", sagte er und schüttelte sie ab. Das war ihm entschieden zu viel Geschwisterknuddeln am Morgen... na ja, Mittag. "Ich mach das aber nur, um dir zu beweisen, dass es totaler Schwachsinn ist und ich nach dem einen Monat genauso sein werde wie jetzt und wieder zurückkomme. Und du musst Mom davon überzeugen, dass ich keine Therapie brauche!"

"Das kommt ganz auf dich an, Harry, das kommt ganz auf dich an"

Sie gingen in Moms Arbeitszimmer, er steckte mit geschlossenen Augen eine Nadel in die Karte - und hätte am liebsten gleich um einen zweiten Versuch gebeten. Süddeutschland! Eigentlich hatte er gehofft irgendwo an der Côte d'Azur zu landen, dann hätte er wenigstens immer schönes Wetter und das Meer gehabt. Die Nadel steckte allerdings im "Niemandsland" irgendwo bei Karlsruhe, an dessen Namen er sich nur vage erinnern konnte. Gemma nahm sich einen Atlas und suchte eine Karte über Deutschland heraus. "Also", sagte sie und knabberte dabei an ihrer Unterlippe, "wenn ich es richtig sehe, müsste es dieser Ort hier sein" Sie hielt Harry den Atlas entgegen und tippte mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Punkt. "Bruchheim", sagte er, "Nie gehört" Der Ort musste winzig sein. "Und da soll ich jetzt also hin, ja?" Gemma grinste. "Ja, du sollst genau dahin. Pack schon mal deine Koffer"

Nach nur einer Woche hatte Gemma eine Wohnung, einen Flug und in Stuttgart einen Mietwagen organisiert. Harry Mutter fand sein Vorhaben zwar etwas befremdlich, aber am Ende gefiel ihr die Idee. Gemma war ein Verhandlungsgenie und konnte vermutlich sogar trockenes Brot als Köstlichkeit verkaufen. Ehe Harry sich versah, saß er bei Gemma auf dem Beifahrersitz auf dem Weg zum Flughafen. Sie hatte ihn gezwungen seine Haare von ihr zu einem Zopf flechten zu lassen ("Dich soll doch keiner erkennen!") und einen Dreitagebart stehen zu lassen. Er fand rasieren zwar nervig, aber die Fusseln im Gesicht waren noch viel schlimmer. Rasieren würde also seine erste Amtshandlung in Deutschland sein.

Zum Abschied drückte sie Harry noch einmal fest. "Und melde dich, ja?", schärfte sie ihm ein. "Ja, mach ich", sagte er und ging in Richtung Check-in. Als er sich noch einmal umdrehte, um zu winken, war Gemma bereits in einer Menschenmenge verschwunden



A long way down (Harry Styles FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt