Ich lief. Es war ruhig um mich herum, vollkommene Stille umgab mich, doch sie bedrückte mich nicht. Nein, sie schien mit mir zu verwachsen, sie umflocht meine Gedankenstränge und umstrich spielerisch meine Haut, stärkte mich, bis ich mich unbesiegbar, geradezu heroisch fühlte. Mein ganzes Wesen schien sich auf diese Bewegung zu konzentrieren; wie ich meine Beine streckte, die Fußsohle aufsetzte, mich geschmeidig abrollte, immer wieder, ein perfekter Kreislauf. Mein Körper summte vor Energie und ich lachte, lautlos, doch das Gefühl war da. Ein Blick nach rechts verriet mir, dass ich nicht allein war. Eine Wölfin mit schneeweißem Fell und bernsteinfarbenen Augen begleitete mich, das Maul leicht geöffnet, sodass ich ihre spitzen Reißzähne erkennen konnte. Ihre Pfoten, meine Füße flogen über ein Meer von Farben, zinnoberrot, lavendelblau, citringelb, grasgrün. Ich fürchtete die Wölfin nicht. Ich wusste um ihre Kraft, um ihre Eleganz und Erhabenheit, und ich spürte, sie würde mir nichts tun. Sie war meine Gefährtin. Auch sie wusste um meine Möglichkeiten, meine Grenzen, wusste, dass ich über mich hinauswachsen konnte. Gemeinsam liefen wir unerschöpflich einem Meer entgegen, über dem sich ein dunkler, sternenübersäter Himmel spannte, er schien links und rechts mit dem Horizont fest verankert zu sein, wie mit diesen Heringen, mit denen man Zelte im Grund befestigte. Er schien unendlich und doch so nah, so greifbar, als müsse ich nur meine Hand ausstrecken, um einen der Sterne herunter zu pflücken und zu meinem zu machen.Einvernehmlich kamen die Wölfin und ich am Strand zum Stehen. Wasser umspülte meine Zehen und ihre weichen Tatzen. Langsam, kaum bemerkbar, verblassten die Farben unter unseren Sohlen und machten einem gleichmäßigen, ruhigen grau-schwarz Platz. Standen wir inmitten von Sand oder Asche? Ich konnte es nicht sagen. Das Meer breitete sich endlos vor uns aus, eine von unzähligen Blauschattierungen durchzogene Naturkraft, die ihresgleichen sucht. Sein Anblick beruhigte mich, obwohl er mir bewusst machte, wie klein ich doch war – genau wie das Meer gehörte ich hier her, hatte meinen festen Platz und Sinn, auch wenn er weit weniger bedeutend war als der seine. Der Horizont schien mit jedem meiner Atemzüge näher zu rücken, immer näher, dem Unendlichen ein Ende bereiten zu wollen. Starker Wind kam auf und zerrte an mir, schlug mir die Haare gewaltsam ins Gesicht. Die Wölfin winselte und bot unterwürfig ihre Kehle dar, drückte sich schüchtern in den Sand. Auch der Himmel schien sich zu senken und uns begraben zu wollen, erst sackte er nach und nach ab, dann stürzte er auf uns zu. Nun hätte ich wirklich nach einem der Sterne greifen können, denn sie flogen wie glühende, alles verschlingende Kometen auf uns zu. Die Energie, die ich zuvor in mir geglaubt hatte, war versiegt und mein Körper wie erstarrt, ich konnte nichts tun, nur zusehen und der Panik und Verzweiflung erliegen, während meine Sterne auf mich herabstürzten, um mich zu erschlagen. Ein durchdringendes Schrillen erfüllte meine Ohren und meinen Kopf, es nahm mir den Atem, es ließ schwarze Flecken vor meinen Augen tanzen und würde meinen Herzschlag aussetzen lassen...
Keuchend schlug ich die Augen auf, immer noch gelähmt von dem, was ich gerade erlebt hatte. Es war eine Apokalypse gewesen, meine persönliche, nur für mich erdacht und abgespielt. Es dauerte einen Moment, bis mir wieder bewusst wurde, wo ich befand – in meinem Zimmer, die wärmende Decke im Schlaf weggestrampelt. Atemlos, doch erleichtert betrachtete ich einen Moment lang meine Zimmerdecke, die sicher und fest über mir errichtet war und nicht im Leben daran dachte, jetzt einstürzen zu wollen. Dann setzte ich meinen linken Arm in Bewegung, um endlich dem grellen Klingeln meines Weckers ein Ende zu bereiten. Ergeben richtete ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augenwinkeln. Schule.
Der Sonntag nach der Hochzeit war rasend schnell vorübergegangen. Verwandte zum Kaffee, das übliche eben: Wie läuft es in der Schule, was willst du danach machen, irgendwelche Pläne? Und, – hier ein verschwörerisches Zwinkern – wie läuft es mit den Jungs? Es war immer die gleiche Leier, die man lächelnd und freundlich nickend über sich ergehen lassen musste. Zeit, über den vorigen Abend nachzudenken, hatte ich nicht wirklich gehabt; allerdings hatte ich nach dem Aufwachen festgestellt, dass ich in einer neuen Whatsappgruppe war - 18.09. Was das genau heißensollte, war mir nicht wirklich klar, und die zu den Nachrichten darin zugehörigen Nummern kannte ich beziehungsweise mein Handy auch nicht. Diese Namensfunktion half da auch nicht gerade weiter, Akronyme und dämliche Spitznamen überall. Mal im Ernst, wer nannte sich selbst bitte Queen?
Ich schob den Gedanken beiseite und stand auf, um mich ins Bad zu begeben. Die leichteste Art, den Morgen zu überstehen war die gleiche, wie man ein Pflaster entfernen sollte – schnell und in einem Ruck. Wenn man lange knibbelte und zögerte, tat es nur noch mehr weh. Zwar bewirkte das morgendliche Aufstehen keinen physischen Schmerz, trotzdem war es ziemlich grausam für mich. Ein Frühaufsteher war ich wirklich nie gewesen. Ich stellte den Wasserhahn auf kalt, doch auch das eisige Wasser, das ich in mein Gesicht klatschte, half kein bisschen mit meiner Müdigkeit. Ergeben betrachtete ich mein blasses Gesicht im Spiegel. Einige Wassertropfen rannen ihn herunter, wo ich ihn versehentlich während meines Waschrituals getroffen hatte. Glasige, blau-graue Augen blickten mir entgegen, untermalt von einem Paar dunkler Augenringe. Da würde wohl nur Concealer Abhilfe verschaffen. Ein Wassertropfen fiel auf meine Wimpern herab und ließ meine Sicht verschwimmen, also wandte ich mich ab und trocknete mein Gesicht, um dann widerwillig aus meinem Pyjama zu schlüpfen.
Marissa rieb sich übertrieben leidend die Schläfen und beugte sich vor, bis ihr die frizzigen Locken ins Gesicht fielen.„Können diese dämlichen Kinder nicht mal morgens um halb 8 die Fresse halten?", murmelte sie verärgert und warf den Sechstklässlern, die auf dem Flur unseres Klassenraums Fangenspielten, einen ihrer berüchtigten Todesblicke zu. Diese bemerkten ihn jedoch nicht und kreischten vergnügt weiter. Anna seufzte beifällig und schüttelte den Kopf. „Ich schwöre, wenn mir noch ein kleines Kind den Ellenbogen beim Rumrennen in die Titten rammt, lauf ich Amok." Ich lachte. Die beiden meinten es nicht böse, sie waren nur genauso wenig Morgenmenschen wie ich. Wir saßen zu dritt vor dem Klassenraum, früher als die meisten anderen, da unser Bus schon um 7 Uhr an meinem Wohnort vorbeifuhr. Womit wir diese Strafe verdient hatten, wussten wir beim besten Willen nicht. Aber wenigstens waren wir mit unserem Leiden nicht alleine. „Ich weiß echt nicht, wie man so früh so viel Energie haben kann", sagte ich ein wenig neidisch. Nach dem Traum von heute Nacht fühlte ich mich besonders gerädert. Die beiden Mädchen links und rechts von mir murmelten irgendetwas zustimmendes, ich hörte nicht genau hin. Auf dem Weg zur Schule, im Bus, waren einige Nachrichten in diese mysteriöse Whatsappgruppe eingetrudelt, aber sie halfen mir nicht gerade weiter – die Leute haben sich nur ein wenig geneckt. Was vielleicht ein Hinweis darauf war, dass sie eng befreundet waren oder sich zumindest gut kannten-
Marissa stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite und schreckte mich aus meinen Gedanken. „Hey", protestierte ich und rieb mir die Seite. Ihre Ellenbogen waren so verboten spitz, dass sie eigentlich schon als Waffen gelten müssten – und das nutzte Marissa auch aus. „Hör mich doch mal zu", beschwerte sie sich und ich gab mir Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. „Was ist denn?" Sie schien kurz zu überlegen, ob es sich lohnte, sich über meinen Ton zu beklagen, entschied sich dann aber dagegen. „Ich wollte wissen, wie diese Hochzeit war", wiederholte sie ungeduldig. Ach ja, da war ja was. „Ganz gut", meinte ich, „War erst ziemlich langweilig, aber nachher ging's." Ich berichtete ihr von unserer Flucht vor den langweiligen Traditionen auf das Dach. Ein seltsamer Ausdruck trat in Annas Augen, als ich die Namen erwähnte, an die ich mich noch erinnern konnte. Irritiert blickte ich sie an.„Ist irgendetwas?", hakte ich nach, doch sie schüttelte nur den Kopf und lächelte. „Was soll sein? Außer dass wir hier sein müssen, das kotzt mich an." Ihr Verhalten war mir ein wenig suspekt, doch ich fragte nicht weiter nach. Wenn irgendetwas war und sie darüber redenwollte, würde sie es schon sagen. Wenn sie es nicht wollte, ging es mich nichts an. Außerdem hatte es vielleicht überhaupt nichts mitmeiner Geschichte zu tun, überhaupt, es konnte ja sein dass ich mirnur etwas einbildete.
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Champagner aus Teetassen
Adventure'So sind wir, wir stoßen an auf unsere hoffnungslose Verderbtheit und verlorenen Lieben, und zwar mit Champagner aus Teetassen.'