Es gibt einen Zeitpunkt, in dem man vollkommen ruhig ist, in dem unser Kopf vollkommen frei von störenden Gedanken und alltäglichenSorgen ist. Diesen Zeitpunkt erkennt man erst, wenn er gekommen ist; es ist schwer zu beschreiben. Er bringt ein warmes, beständiges Gefühl mit sich, das sich von deiner Brust über den Bauch bis in den letzten Zentimeter deines Körpers ausbreitet, dich von innen heraus wärmt und dir dieses leichte Lächeln ins Gesicht zaubert, das Lächeln, das nicht nur deinen Mund, sondern auch deine Augen erreicht und sie leuchten lässt, als wären sie kleine Laternen oder Kerzen. Es ist so, als würde es einmal 'Klick' machen, und dann ist man so ruhig, so bei sich selbst und doch bei der Person neben sich.
Ich persönlich habe diesen ganzen Kram ja immer für einen Mythos gehalten. Ich war nicht die Art Mensch dafür. Es hörte schon bei dem „ruhig"-Part auf. Ich war nicht ruhig. Ich war schreckhaft und ängstlich und hatte ständig einen Kloß im Hals. Und wenn mich jemand zu unerwartet berührt, schrecke ich zurück. Das hat gar nicht unbedingt etwas mit der Person vor mir zu tun, mit Ab- oder Zuneigung, es war einfach so, schon solange ich mich erinnern kann. Dafür habe ich auch bereits den einen oder anderen verletzten Blick geerntet, doch ich kann es nicht ändern. Mich stört es ja auch - es kann sogar ziemlich blöde Folgen haben. Wie damals in der 5. Klasse. Auf sämtlichen Schulhöfen scheint es doch diese Drehkreisel zu geben - aus Metall, mit buntem Tau umwickelt, zum Sitzen, zum Stehen, zum Klettern; da gibt es alle möglichen Variationen. So ein Ding hatten wir selbstverständlich auch auf unserem Pausenhof, mitten in einem mit Rindenmulch bedeckten Abschnitt thronte es. Dort, wo die unteren Jahrgänge spielen sollten. Unter uns hatten wir diesen Kotzkreisel getauft, so schlecht wurde einem darauf, und die Drehungen kamen uns immer um einiges schneller vor, als sie eigentlich waren. Jedenfalls hatte ich nach der letzten Stunde noch ein wenig Zeit und habe mich zu ein paar Kindern dazugestellt, die eben auf dem Kotzkreisel waren. Irgendwann merkte ich, wie meine Hände begannen, sich von den Metallstangen des Kreisels zu lösen. Eine Hand rutschte weg, nun hing ich nur noch an der anderen, doch auch diese verlor ihren Halt. Und da griff der Junge neben mir nach ihr, um mich festzuhalten. Ich erschreckte mich so sehr vor der plötzlichen Berührung, dass ich losließ und auf dem Rindenmulch aufschlug. Erst der Rücken, dann mit Schwung der Hinterkopf. Der Junge sprang sofort herunter und entschuldigte sich, doch ich gab nur eine bissige Bemerkung zurück, schnappte meine Tasche und erlaubte meinen Tränen erst zu fließen, als ich hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Lange Rede, kurzer Sinn: Gehirnerschütterung, eine Woche Krankenhaus. Super gelaufen.
Entsprechend dieses Zwischenfalls war ich auch im weiteren Verlauf meines Lebens nicht gerade eine Granate, was Beziehungen anging, weder liebes- noch freundschaftsmäßig. Natürlich hatte ich Freunde, sogar sehr gute, die ich schon Ewigkeiten kannte und denen ich voll und ganz vertrauen konnte. Doch neue dazu zu gewinnen, fiel mir immer schwer. Es schien sich einfach immer, wenn ich mit Leuten reden musste, die ich nicht kannte, eine Art eiserne Faust um meinen Brustkorb zu schließen, die dann ganz fest zudrückte, bis ich dachte, nie wieder frei atmen zu können. Von den meisten Leuten wurde ich einfach als schüchtern oder gegebenenfalls auch schlicht als eingebildete Arschkuh abgestempelt.
Das Rumpeln eines Stuhls, der von einer tanzenden Hüfte versehentlich gegen unseren Tisch gestoßen wurde, schreckte mich aus meinen Gedanken und holte mich in die Gegenwart zurück - nicht, dass diese sonderlich interessant wäre. Zunächst war ich natürlich aufgeregt gewesen, als meine Eltern mir eröffnet hatten, dass Ahmed und Melek heiraten würden, immerhin waren die beiden wirklich ein tolles Paar und ich mochte sie beide. Sie kannten sich schon seit ihrer Kindheit und hatten sich irgendwann ineinander verliebt, so richtig schon klischeemäßig. Doch es schien zu funktionieren, und die beiden sahen heute Abend auch aufrichtig glücklich aus, wie sie zusammen auf der Tanzfläche herumwirbelten. Die ständig wechselnde Beleuchtung zeichnete bunte Tupfer auf ihre Haut und Kleidung und gab der Szene einen beinahe unwirklichen Touch. Dabei fiel mir auf, dass ich Ahmed heute zum ersten Mal in einem Anzug sah. Dabei war er doch ein junger Geschäftspartner meines Vaters, jedenfalls behauptete dieser das. Ich hegte jedoch insgeheim den Verdacht, dass die beiden sich in irgendeiner Bar kennengelernt hatten und Saufbrüder waren, immerhin teilten sie die gemeinsame Liebe zum Schnaps. Den ich angesichts meiner Langeweile auch gut gebrauchen konnte. Aber auch als ich zum gefühlt zwanzigsten Mal hoffnungsvoll meinen Blick über die Tische des gut gefüllten Saals schweifen ließ, wurde ich enttäuscht - kein Tropfen Alkohol. Ich hatte eigentlich angenommen, dass die Gerüchte absoluter Quatsch war und es auch auf türkischen Hochzeiten wenigstens Sekt oder etwas in der Art gab. Aber sie schienen sich doch zu bestätigen. Wie hielten die das nur aus? Bei unserer Familie waren spätestens um 11 die ersten sturzbesoffen. Das lag aber eventuell auch daran, dass meine Tante Lotte einfach eine Schnapsdrossel war, wie sie im Buche stand, und ihr fettwanstiger Mann war nicht besser. Doch im Gegensatz zu ihr vertrug er es einfach nicht und gestand es sich selbst nicht ein.

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Champagner aus Teetassen
Aventura'So sind wir, wir stoßen an auf unsere hoffnungslose Verderbtheit und verlorenen Lieben, und zwar mit Champagner aus Teetassen.'