Kapitel 3. Der Aufzug

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Zitternd vergrub ich meine Finger in den Stoff des Mantels, der seinen Zweck mich warm zu halten schon längst nicht mehr erfüllte. Wie erstarrt blieb ich für eine lange Zeit vor dem grauen, mit Efeu umrandeten Gebäude stehen, unfähig, auch nur einen Schritt in Richtung des Eingangs zu setzen. Ich hatte Angst. Angst vor der Angst.  Wie würde es wohl sein, meine Eltern wieder zu sehen?

Mit einem unwohlen Gefühl im Magen setzten sich meine vereisten Füße langsam in Bewegung. Ich zwang mich nicht zurück auf den Parkplatz zu gehen und versuchte meinen Blick starr auf die, zu meiner Überraschung, geöffnete Eingangstür zu halten. Mit Herzklopfen trat ich über die Schwelle. Sofort schwirrte mir dieser verabscheute Geruch von >Krankenhaus<, in dem ich mich nun befand, und Desinfektionsspray entgegen. Bemüht, nicht den Schaal vor den Mund zu halten um diesen Gestank auszublenden, begab ich mich auf den Weg zu der jungen Dame an der Rezeption, die gerade sichtlich überfordert zwischen ein paar Unterlagen wühlte, auf der Suche nach etwas.

Völlig in den Gedanken versunken las sie ein paar Zeilen des Dokumentes in flüsterndem Ton vor sich hin. Allem Anschein nach, hatte sie gar nicht bemerkt, dass jemand vor ihr getreten war. Mit einem kleinen Räuspern machte ich mich schließlich bemerkbar, ehe sie erschrocken von den Papieren aufsah, direkt in mein Gesicht. Schnell wandte ich den Blick ab und begann zu sprechen. >>Hallo. Mein Name ist June Richard. Ich würde meinen Eltern gerne einen Besuch auf der Intensivstation abstatten.<< Mit einem knappen Nicken antwortete sie mir. Super. Redebegeistert wie immer.

Leise seufzte ich. Warum musste ich auch die Zimmernummern vergessen? >> Der Name meiner Mutter lautet Lydia Richard. Der meines Vaters, Harvey Richard. Könnten sie mir bitte sagen, in welchen Zimmern sie liegen?<< mit gesenktem Blick erinnerte ich mich still an das Letzte Mal, als ich hier war. Die unzähligen, gleich aussehenden Gänge haben mir schon damals Kopfschmerzen bereitet. Wie oft hatte ich Besucher und Patienten nach dem Weg zu der Intensivstation fragen müssen, weil ich mit dem komplizierten System dieses Krankenhauses nicht klar kam? Nein, dieses Mal brauchte ich nicht nur die Nummer der Zimmer, sondern auch eine ausführliche Beschreibung zu dem Weg dorthin.

Vor mir gab die Angestellte die Namen meiner Eltern in den Computer ein, sodass sich gleich darauf eine Patientenliste öffnete und diese sich in den Gläsern der großen Nerd Brille der Schwester wiederspiegelte. Bedacht darauf ihr nicht komplett in die Augen zu sehen, las ich heimlich die Namen der Patienten mit, bis ich die meiner Eltern fand. Mit den Zimmernummern… >>246 und 258. Das sind die Zimmernummern.<<  Hinter der Rezeption stand die Frau auf und zeigte mit einem ihrer langen Finger in eine Richtung direkt hinter mir. >>Sie müssen diesen Gang entlang gehen und am Ende links abbiegen. Dann müssten schon die Fahrstühle in Sicht kommen. Sie nehmen einen von diesen und fahren dann ein Stockwerk höher. Dann gehen sie unvermittelt gerade aus. Es wird eine kleine Besucherecke kommen, an der sie vorbei müssen und schließlich rechts abbiegen. Dann sehen sie schon das beleuchtete Schild der Intensivstation.<< Scharf sog ich die Luft ein. Um Himmels Willen, wer soll sich das alles merken?!

Mit einem Lächeln und einem >Danke< auf den Lippen hastete ich in die Richtung, auf der so eben noch der Finger von  der Schwester gezeigt hatte. Aber dann, mitten im Gehen, blieb ich ruckartig stehen. Das gleiche Gefühl von gestern Abend machte sich in meinem Körper breit. Ich fühlte mich beobachtet. Gestalkt. June, du hast sie nicht mehr alle. Wer sollte dich in einem Krankenhaus beobachten? Schwestern? Patienten? Das ist doch schwachsinnig.  Mit einem Kopfschütteln ging ich weiter. Gut…Jetzt muss ich…Ah, genau. Vor mir schien der lange Gang zu enden. Ich muss links abbiegen und dann zu den Fahrstühlen. Mit kurzen Schritten lief ich um die Ecke. Ein paar Ärzte, mit hochalarmierten Gesichtsausdrücken und Klemmbrettern unter den Armen rasten in einer Geschwindigkeit an mir vorbei, die nichts Gutes zu bedeuten hatte. Ich sah ihnen nach, bis sie in der Notaufnahme verschwanden. Hm…Anscheinend wurde gerade ein schwer verletzter Mensch eingewiesen, der dringend auf ärztliche Hilfe angewiesen ist. ….In solch einer Eile mussten auch die behandelnden Ärzte von meinen Eltern gewesen sein, als sie nach dem schweren Autounfall hier eintrafen. In solch einer Eile war ich nicht. Ich war nicht da, ich war….Stopp. Für einen kurzen Moment schlossen sich meine Augen. Nein, Schuldgefühle sind das Letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte.

Try to escape, darlingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt