Chapter 2.

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Ja, mein Vater war ein grausames Schwein. Und das wusste jeder. Zumindest jeder der unsere Geschichte kannte. Oder sollte ich eher sagen jeder der am 23. Oktober die Zeitung gelesen hatte? Kommt hier ja nicht allzu oft vor, dass sich jemand beim Brötchen holen neben dem Friedhof an einem Baum erhing.

Die Sonne schien zwar, trotzdem wehte schon der erste kühle Wind und kurz überflog mich das Gefühl, dass ich etwas friere.
Aber jetzt nochmal zurückkehren und meine Jacke holen wollte ich auch nicht riskieren. In meinem Kopf spielte sich jetzt schon das Szenario ab, welches ich dann miterleben dürfte. "Wie dumm kann man sein? Seine Jacke zu vergessen! Man guckt doch bevor man raus geht wie das Wetter ist!" 
Nein, das wollte ich mir nicht antun. Außerdem war ich ja auch kein Weichei wegen einer leichten Briese. Und ich machte mir schon wieder viel zu viele Gedanken für den Morgen aber genau das war auch das was mich irgendwo ausmachte.

"Fabi? Ey, ignorier mich doch nicht!", ich schreckte aus meinen Gedanken vor und drehte mich zu Sofia um. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich schon an meiner Schule angekommen war.
"Tut mir leid, ich war mal wieder versunken..", bemerkte ich und schenkte dem Blonden Mädchen zur Begrüßung eine Umarmung. Auch wenn sie mich sehr an Luisa erinnerte, genoss ich nichts mehr als ihre Nähe.
"Ist ja nicht schlimm. Hätte mich auch gewundert wenn es anders gewesen wäre."
Meine Lippen formten sich zu einem kurzen lächeln und ich nickte kurz.
"Was haben wir gleich eigentlich?", fragte ich sie und plötzlich fiel mir ein, dass ich meine Tasche für heute gar nicht gepackt hatte. Scheiße..
"Biologie. Hast du etwa deine Sachen wieder nicht dabei?", fragte sie und ich schüttelte als Antwort kurz meinen Kopf. "Nicht schlimm, Hannah und Sarah stellen heute eh ihr Referat vor.", sagte sie und ging mit mir in Richtung Gebäude. "Sehr gut. Welcher Raum?" "3306."
Ein Seufzer verließ meine Lippen und ich dachte dann die vielen Treppen die mir gleich bevorstünden. Gebäude 3, Stockwerk 3, Raum 6. Wenn ich schon daran denke bekomme ich Schnappatmungen. 

Kurz nachdem wir den Raum betraten und ich mich gewohnt mit Luisa in die letzte Reihe setzte, kam auch schon unsere Lehrerin herein und setzte ihr 'Immer-gute-Laune-Grinsen' auf.
Ich mochte sie nicht besonders. Nicht nur weil ich mich fragte wie man immer gute Laune haben konnte, sondern auch wie man so einen schrecklichen Kleidungsstil haben konnte.
Sie schob ihre Brille wieder auf die Nase hoch und musterte kurz unsere Klasse, überprüfte aber dann die Anwesenheit.
Nachdem jeder kurz seinen Arm hob wenn er seinen Namen hörte, holte Frau Berger kurz Luft und es fühlte sich so an als würde sie mich direkt anschauen.
"Bevor wir mit dem Referat anfangen, möchte ich euch etwas mitteilen.", für euch schaut sie mich aber etwas sehr direkt an. Zu direkt.
"Und zwar haben wir eine neue Vertrauenslehrerin. Dies ist ihre erste Stelle, also seid nett zu ihr wenn ihr zu ihr geht. Wie ihr wisst hat auch sie die Schweigepflicht. Also wenn euch etwas belastet, ihr Raum ist in 2003." Ich schaute mich um. Zwar sah mich keiner an aber ich wusste, dass alle hier an mich dachten. Nur Sofia stupste mich kurz an und flüsterte mir zu.
"Vielleicht solltest du es da versuchen.. Sie ist vielleicht netter."
"Ich habe kein Interesse an einer Schnäpfe der ich meine Probleme anvertrauen soll.", zischte ich leise und zog eine wütende Miene. "Ich mein ja nur.."
"Sofia!", Frau Berger sah sie ermahnend an und Sofia entschuldigte sich kurz, ehe sie dann doch fortfuhr.
"Ich weiß die letzte war echt schlecht und ich weiß ich habe dir versprochen dich nie wieder dahin zu schleppen.. Aber ich habe schon gehört, dass sie einiges jünger ist und außerdem viel kompetenter.." Ich erinnerte mich nur noch zu gut daran was letzte mal passiert war als ich zu unserer alten Vertrauenslehrerin gegangen war. Auf Sofia's Wunsch natürlich. Kurz nachdem sie gesagt hatte, dass Luisa mit ihrem selbstverletzenden Verhalten nur Aufmerksamkeit haben wollte, bin ich aus dem Büro gestürmt und habe mir geschworen nie wieder diesen Raum zu betreten. Wie inkompetent konnte man eigentlich sein?
"Ich überleg es mir..", murmelte ich und ich vernahm Sofia's tiefen Seufzer. Ich versuchte mich auf das Referat zu konzentrieren, jedoch hatte ich nach dem Gedanken von meinem letzten Besuch bei der Vertrauenslehrerin keine Konzentration mehr dafür und musste wieder an Luisa denken.
Es kotze so an.. Warum nahm mich das alles so sehr mit? Klar, ich liebte meine Schwester über alles und wir waren unzertrennlich, aber musste sie mich mit meinem Vater und meiner Mutter alleine lassen?
Ich dachte daran wie oft wir darüber geredet hatten einfach abzuhauen.. Auf einer der Inseln oder so.. Aber einfach weg von hier. Weg von meinem Vater.
Wieder riss Sofia mich aus meinen Gedanken und strich mit ihrem Finger kurz unter ihre Augen. Das machte sie immer wenn sie mir zeigen wollte, dass ich kurz vor den Tränen stand. Ich nickte kaum merkbar und strich kurz über mein Gesicht. Ich hatte ihr gesagt dass sie mich bloß darauf hinweisen sollte, wenn ich kurz davor stehe. Ich wollte nicht, dass andere sahen wie nah ich dem Ende war. Und vor allem, dass mich das alles noch so mitnahm. Ich wollte stark wirken. Nein, eigentlich wollte ich stark sein. Aber leichter gesagt als getan.
Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es nur noch 5 Minuten bis zur Pause waren und ich begann schonmal meine Sachen zu packen. "Die beiden haben frei gesprochen.", meldete ich mich kurz um Feedback zu dem Referat abzugeben. Ich hatte zwar überhaupt nichts mitbekommen aber da ich die beiden als sehr gut in Referaten kenne, wusste ich dass es passt wenn ich das sage. So kam ich mal wieder auf 1 Wortmeldung im Unterricht. Ich war nicht der mündlich beste Schüler, mit ein paar Ausnahmen, aber wenigstens im Schriftlichen konnte ich mich immer aufs beste retten.
Der Pausengong ertönte und ich schulterte meinen Rucksack um zusammen mit Sofia den Bioraum zu verlassen.
"Fabian?", ich drehte mich um und Frau Berger stand hinter mir. "Ich würde gerne nochmal mit dir alleine reden."
Ich drehte mich kurz zu Sofia um, um ihr bescheid zu geben dass sie schonmal runter gehen sollte und ich nachkommen würde. Ich betrat den Raum wieder und setzte mich auf einen der Tische aus der ersten Reihe, wobei Frau Berger in der Zeit die Tür schloss. Ich ahnte warum sie wieder mit mir reden wollte. Es war immer dasselbe..
"Ich habe wieder mitbekommen wie abwesend du während des Unterrichtes warst. Fabian ich mache mir Sorgen um dich. Du bist zwar kein schlechter Schüler aber trotzdem scheinst du seit gewisser Zeit nicht ganz bei der Sache zu sein.." Ich wusste es..
"Und nun?", fragte ich sie und zog etwas fragend meine Augenbraue nach oben. Ja, im kalt sein war ich gut. "Ich wollte dir sagen,dass.. Die Vertrauenslehrerin.. Ich habe das Gefühl, dass sie dir gut tun könnte..", ach was.
"Das habe ich gemerkt, dass sie das denken.", bemerkte ich und grinste kurz provozierend. Sie seufzte kurz. "Fabian, ich meine das Ernst. Die Frau hat ein Psychologiestudium hinter sich. Wir, der Lehrerrat, hatten das Gefühl dass es einigen Schülern erheblich besser tun würde. Dabei haben wir auch an dich gedacht."
"Also werde ich hier jetzt schon wie ein Prominenter behandelt?", fragte ich sie und musste über diese Lächerlichkeit lachen.
"Natürlich nicht. Das war nie unsere Absicht. Aber sieh doch, wir machen uns Gedanken um die Situation hier zu verbessern. Und wir haben nicht viele hier mit..so einem Schicksal wie deinem."
Im Laufe ihres Gerdes vertiefte sich meine Miene. Alle dachten nur, dass meine Schwester sich umgebracht hatte. Von meinem Vater wussten sie nichts. Außer Sofia. Trotzdem dachten alle ich wäre nur der Junge der den Tod seiner Schwester nicht verkraftet hätte, was ja auch irgendwo stimmte, jedoch war da noch viel mehr. Die blauen Flecke, die Prellungen und zerbrochenen Teller.. Keiner hatte wirklich eine Ahnung was hier abging. Und das war auch besser so.
"Versteh doch, so einen Verlust ist schwer zu verkraften, aber man kann es nicht besser machen wenn man sich keine Hilfe sucht."
"Wollen sie mich gerade auf den Arm nehmen?" Es staute sich Wut in mir auf. "Haben Sie schonmal jemanden verloren der wie ihre zweite Hälfte war? Mit dem Sie alles geteilt haben? Den sie schon ihr ganzen Leben kennen und der immer für sie da war? Sagen sie nicht etwas, wovon sie gar keine Ahnung haben!", sagte ich mit lauter Stimme und stürmte wutentbrannt aus dem Klassenzimmer.
Das einzige was ich noch von ihr sah, war ihr irritiertes Gesicht und wie sie ihr Gesicht kopfschüttelnd in ihre Hand legte. Sie wusste sie hatte versagt. Hatte sich vorgenommen mich zu ihr schicken zu können.. tja falsch gedacht.. 

Im Treppenhaus im Erdgeschoss traf ich wieder auf Sofia die mich fragend ansah. "Und?", eine neugierige Miene musterte mich, während ihr Körper sich umdrehte, entnahm meiner Laune jedoch worum es sich handelte und hörte sofort auf weiter zu fragen.
"Tut mir leid, ich glaube du kannst es dir denken..", meinte ich und atmete kurz durch.
"Aber Fabi..wir wollen doch nur das Beste für dich."
"Dann bring mich hier weg!", wieder wurde ich laut und erschreckte mich selbst davor.
Ich sah wie Sofia etwas zurückwich und nahm sie sofort in den Arm. "Ich wollte nicht laut werden..", flüsterte ich schnell. "Ich weiß..."
"Nein, ich muss lernen mich zusammenzureißen..aber das ist einfach nicht leicht..Ich kann nicht mehr.", ich löste mich wieder etwas von ihr und fing an auf meiner Lippe zu kauen.
"Und wenn ihr alle wollt, dass ich zu dieser.. Vertrauenslehrerin gehe..Man, ihr drängt mich ja schon fast dazu.. Und wenn mein Vater das erst herausbekommt, bin ich noch mehr erledigt als ich es sowieso schon bin. Es war das letzte mal ja schon verdammt knapp."
Ich weiß noch wie ich nach Hause rannte um den Brief abzufangen, in dem stand dass ich mich nicht gemäß der Schulordnung verhalten hatte. Was ein Schwachsinn. Selbst Schuld sind die.
"Ich dachte nur.. weil die um einiges kompetenter sein soll.. Ich hab übrigens gehört dass ihre Vorgängerin ihren 'Titel' gefälscht hat. Andere Schüler sagten, dass sie oft sexuell von ihr belästigt wurden. Ich bin irgendwie froh,dass du da rausgerannt bist.", meinte sie und verkniff sich ein Lachen. Wir waren schon auf dem Weg nach draußen,als es wieder zum Unterricht klingelte.
"Pass auf.. Ich werde mir das durch den Kopf gehen lassen, ok? Und wenn ich es mir überlegt hab, bist du die erste die davon erfährt." sagte ich zu ihr, strich ihr kurz über die Wange und lächelte sie etwas an. Warum sieht sie Luisa nur so ähnlich..?
"
Alles klar.", sie nickte kurz und wir machten uns auf den Weg zum Matheunterricht. Wie immer im Computerraum. Wieder ließ ich mich dabei erwischen wie ich trank, was hier zwar strengstens verboten war aber ich hab aufgehört die Male zu zählen die ich schon erwischt wurde.
Ich wollte einfach immer nur gucken ob mein Lehrer es wirklich merkt. Und ja, tat er. Jedes verdammte mal. Doch ich verlor nie den Reiz es immer wieder zu versuchen.
Wenn mein Vater das erfahren würde wäre ich tot, hundertprozentig. Aber ich ließ die letzten beiden Stunden über mich ergehen und hatte somit meinen einzigen 4 Stunden Schultag hinter mir.
Kurz bevor ich das Schulgebäude verließ, verabschiedete ich mich von Sofia und machte mich auf den Weg nach Hause. Aber ich hatte Lust auf einen Abstecher und lief Richtung Meer. Das liebte ich ja an unserem Dorf. Ich brauchte keine 5 Minuten um dort zu sein.
Ich lief den Weg entlang bis ich Sand unter den Schuhen hatte und zog diese dann aus, wobei ich noch etwas in Richtung Wasser lief und mich dann hinsetzte. Aus meinem Rucksack holte ich meine Zigaretten heraus und zündete mir mit Sofias Feuerzeug die Zigarette an.
"Damit du immer an mich denkst wenn es dir schlecht geht.."
Ich nahm einen tiefen Zug und pustete den Rauch langsam aus meiner Lunge heraus. Obwohl ich mich hier total wohl fühlte, hatte ich ein unglaublich schlechtes Gefühl, als wenn gerade irgendwas passiert. Jedoch besuchte mich dieses Gefühl so oft, dass ich beschloss es einfach zu ignorieren.
Ein paar Spaziergänger kamen vorbei, mit Hunden oder ihren Kindern und ich dachte an die Zeit als noch alles gut war. Malte den Anfangsbuchstaben meiner Schwester in den Sand, flüsterte Alles wird gut,bald sehen wir uns wieder. und machte mich dann wieder auf dem Weg nach Hause.
Weitere 5 Minuten und ich sah schon das gelbe Haus in dem ich wohnte. Es war eines der Strandhäuser um die jeder einen beneidete. Aber ich wünschte keinem das Leid, das sich in diesen Wänden abspielte.
Ich lief die 3 weißen Treppen hinauf und schloss die Tür auf. "Mum? Dad? Ich bin wieder da!", rief ich und wartete auf eine Antwort. Jedoch wartete ich vergebens.
Ich ging ins Wohnzimmer, aber hier war keine Spur meiner Eltern. In der Küche war auch Fehlanzeige. Genauso wie im Keller, dem Schlafzimmer und dem Bad. Nirgendwo. Aber eine Sache war anders als sonst.. Ich drehte mich zu dem Zimmer meiner Schwester, sah, dass die Tür offen stand.
Langsam ging ich auf das Zimmer zu. Spürte wie mich eine Gänsehaut überfuhr. Die Tür quietschte etwas als ich sie weiter aufdrückte und ich atmete langsam aus als ich meine Mutter am Fenster stehen sah. Sie zuckte erschrocken auf als sie sich zu mir umdrehte.
"Fabi..Erschreck mich doch nicht so..", murmelte sie erschöpft und ich nahm sie in den Arm. "Was machst du hier?", fragte ich vorsichtig und sie drückte sich eng an mich. "Ich hatte dich noch nicht so früh erwartet. Ich komme oft hierher um zu beten.. Dein Vater ist weg.."




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