Ich habe die letzten 2 Wochen ziemlich gut genutzt. Besonders habe ich mich auf meinen Orientierungssinn konzentriert, der bis jetzt kaum in den kleinen Straßen Altamonts beansprucht wurde. Ich bin mittlerweile so gut, dass ich weiß, dass es rechts Richtung U-Bahn geht und links zum nächstgelegenen Starbucks.
Was braucht ein weißes Mädchen denn noch?
Außerdem war ich shoppen. Für meine Verhältnisse verdammt viel, denn meine Mutter ist nicht gerade die spendabelste, was mich in den letzten Jahren, in denen ich sowieso nur zuhause gehockt habe, auch gar nicht gestört hat. 16 Jahre meines Lebens habe ich in Jogginghosen und oversize T-shirts aus der Männerabteilung verbracht und die paar Klamotten, die meinem Stil entsprechen, bestehen aus zerrissenen Strumpfhosen für 2 Dollar aus dem nächsten Target und Männerhemden von meinem Opa. Individuell eben.
Aber jetzt stehe ich hier, mit ganzen 4 Paar Jeans, übrigens die ersten in meinem Leben, in der rechten Hand und ein paar Hundert Oberteilen in der anderen. Weder meine Mutter noch ich wussten, wie viel Geld meine Oma in den letzten Jahren zusammen gehortet hat, nur damit wir beide ein gutes Erbe bekommen würden. Und durch den Verkauf unseres kleines Bungalows in Altamont haben wir schon ein gutes Sümmchen zusammen, doch ich werde gar nicht weiter ins Detail gehen, denn über Geld redet man ja bekanntlich nicht.
Ganz sicher,Lou.In den letzten zwei Wochen habe ich sogar Freunde gefunden, es sind zwar nur unsere 75-jährigen Nachbarn, aber sie sind wirklich sehr nett. Manchmal habe ich zwar das Gefühl, dass sie mir ihre ganze Lebensgeschichte, von ihren ersten Schritten als Babys bis zu dem Moment, in dem sie realisierten, dass sie nicht mehr alleine von der Toilette aufstehen konnten, erzählen wollen, doch sie stecken mir als Entschuldigung immer einen Schokoriegel oder sowas zu, wenn sie am Ende ihrer Erzählungen sind. Ich wette, dass sie mich heute wieder an der Tür abfangen und George mir weiter von seinem Vietnam Einsatz erzählt, seine Frau Sally wird andächtig daneben stehen und ihn anhimmeln. Ihr werdet euch nicht vorstellen können, wie sehr sich die beiden lieben, selbst nach mehr als 50 Jahren Ehe.
Mehr Kontakte konnte ich leider noch nicht knüpfen, denn obwohl ich sehr oft draußen war auf den Straßen Philadelphias, hing meine Mum mir wie eine Klette an den Hacken. Entweder sie ist plötzlich zu einer dieser überfürsorglichen Helikopter-Müttern geworden oder die Großstadt überfordert sie dermaßen, dass ich ihr sicherer Hafen bin.
Aber aus ihrer ständigen Präsenz habe ich meine Vorteile gezogen, denn ich habe verdammt viel neue Klamotten. Röcke, Overalls, natürlich Strumpfhosen und Hemden. Außerdem sieht mein Zimmer jetzt perfekt aus, aus meiner Sicht und ich kann mich jeden Morgen von meiner super weichen Matratze rollen und werde von strahlenden Sonnenscheinen empfangen, die durch meine riesige Fenster fallen.
Genau wie diesen Morgen, doch heute fühle ich mich überhaupt nicht so erholt und happy wie die letzten Wochen und Tage.
Heute ist der große Tag. Mein großer Tag.
Ich werde zum ersten Mal einen Fuß in eine ganz normale Highschool setzen.
Ich werde Menschen in meinem Alter kennenlernen.
Ich werde sehen, wie ganz normale Jugendliche die Hälfte ihrer Tage verbringen.
Werde sehen, wer sich der komischen Neuen annimmt oder wer sie zum heulen bringt.Ganz langsam rapple ich mich hoch und öffne erstmal meine Fenster. Es ist 6:45 und dennoch empfängt mich schon die Sonne und ich bekomme einen Schwall angenehm kühle Luft ins Gesicht, welcher mich etwas erwachen lässt.
Nachdem ich geduscht und mich eingecremt habe, stehe ich sicher 30 Minuten vor meinem offenen Schrank mit tropfendem Haar und nur in Unterwäsche.
Jetzt kommt der große Augenblick. Ich werde ein Outfit für meinen ersten Schultag raussuchen, auf Gedeih und Verderb.
Schlussendlich ziehe ich sowieso wieder was gemütliches an, deswegen wähle ich meine schwarze Jeansshorts aus, die etwas zerfranst und zerstört aussieht. Dann noch ein schwarzes T-Shirt und meine grauen Airforce low. Ich streife mir ein paar Armbänder und Ringe über und schminke mich. Heute bin ich verdammt mutig, weil ich entschlossen meinen Eyeliner aus der Schublade hole und betend anfange jeweils zwei einigermaßen symmetrische Linien auf meinen
Augenlidern zu zeichnen. Ich benutze noch Wimperntusche und Concealer, bevor ich mit ein wenig Bronzer eine Bräune kreiere, die ich in meinem nicht vorhandenen Urlaub bekommen habe.
Ich sag hier nur Trick 17
Ich benutze noch meinen getönten Lippenbalsam und lächle dann gezwungen in den Spiegel.
Eine halbe Stunde später verlasse ich das Haus, nachdem meine Mutter mir ein riesiges Lunchpaket eingepackt hat und George und Sally mir von ihren Cholesterinspiegel-Werten erzählt haben. Vor dem riesigen Mehrfamilienhaus bleibe ich stehen und atme einmal tief durch.
Obwohl ich mir das nicht eingestehen möchte, bin ich nervös. Meine Hände fühlen sich an wie nasse Schwämme und das liegt nicht an der schreienden Hitze, die in Philli herrscht. In meinem Bauch kribbelt es gewaltig und ich habe das Gefühl, dass mein Atem schneller geht als sonst. Ich brauche ganz dringend twenty one pilots, also krame ich meine Kopfhörer und mein Handy raus und mache meine Musik an, so laut wie es geht. Zögernd mache ich ein paar Schritte in Richtung Starbucks und mische mich unter die Menschenmenge. Ich muss meine Sonnenbrille aufsetzen, so munter scheint heute die Sonne und ich lasse mich von dem Strom der Passanten mitziehen, bis ich das grün-weiße Logo sehe.
Im Kaffee empfängt mich klimatisierte Kühle und das gedämpfte Murmeln mehrerer Jugendliche, die wie ich auf dem Weg zur Schule sind oder Anzugträger, die hektisch auf ihren Blackberrys tippen. Es dauert eine halbe Ewigkeit bis ich rangenommen werde, solange tippe ich gedankenverloren auf meinem Handy rum und höre mir das Vessel Album von TOP an. Die Lieder kriechen in mein Hirn rein und ich muss stark widerstehen, um nicht mit meinem Kopf im Takt der Musik zu wippen bis ich merke, dass ich angestarrt werde.
Ich hasse dieses Gefühl, als wenn sich der Blick der Person in meinen Nacken brennt und mich überkommt ein Unwohlsein.
Suchend schaue ich mich um bis ich den Auslöser des Problems finde, welcher einen Eistee schlürfend dasitzt, mit lockigen braunen Haaren und einem iPhone in der Hand. Sein Blick begegnet meinem so intensiv, dass ich automatisch einen Schritt nach hinten gehe und mich schnell umdrehe.
Guck da bloß nicht wieder hin.
Verbissen betrachte ich die Vitrine vor mir voller Muffins und eingeschweißten Sandwiches und versuche das Bild von dem Jungen mit den perfekten Haaren und dem perfekten Gesicht aus meinem Kopf zu bekommen.
"Hallo?"
Erschrocken schaue ich nach oben, direkt in die Augen der ungeduldigen Starbucks Mitarbeiterin, die auf meine Bestellung wartet.
Peinlich berührt bestelle ich mir schnell meinen Latte mit meinem Lieblingsmuffin und stelle mich in die andere Schlange der Menschen, die auf ihre Getränke warten.
Er starrt dich immer noch an
Sein Blick brennt sich unangenehm in meinem Nacken und ich kann nur ganz schwer widerstehen, mich umzudrehen und dem Typen direkt ins Gesicht zu sehen.
Ich bin sowas nicht gewohnt, so gar nicht.
Mein ganzes Leben habe ich mich kaum in der Öffentlichkeit bewegt, schon gar nicht in einem so belebten Ort wie Philli, wo die Jugendlichen existieren wie eine Rattenpest.
Dementsprechend waren Jungs nie ein großes Thema, besonders wenn man die Vergangenheit meiner Mum mal beachtet.
Ihre Mundwinkel ziehen sich schon nach unten, wenn ich nur einen männlichen Namen in den Mund nehme und ich denke nicht, dass sie jemals mit einem Freund vor dem College einverstanden wäre. Nein, ganz sicher nicht.
Während ich auf mein Getränk warte, spüre ich immer noch diesen aufmerksamen Blick, doch ich kann mich einfach nicht überwinden mich umzudrehen und irgendetwas gegen dieses beständige Stalken zu unternehmen, also schaue ich weiterhin auf meine Playlist und scrolle meine Lieder durch.
Das hat weder Sinn, noch vergesse ich diesen Jungen, aber wenigstens schlägt es die Zeit tot. Erleichtert nehme ich meinen Latte und die Tüte entgegen und lächle die Starbucks Mitarbeiterin dankbar an.
Kaum hab ich den Becher in der Hand, drehe ich mich schon auf dem Absatz um und gehe, so selbstbewusst wie ich noch spielen kann, Richtung Ausgang.
Guck jetzt nicht nach hinten. Nein, Lou, du guckst nicht nach hinten. Du drehst dich nicht um.Ratet mal, wer sich umgedreht hat.
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Half past five
Teen FictionLou-Ann ist ein Freshman, obwohl sie die 10. Klasse besucht. Von klein auf zuhause unterrichtet zu werden macht einen schon besonders genug, doch auch ihr unsicheres Verhalten macht sie zu einem attraktiven Opfer für jeden. Lehrer, Schüler und Jungs...