Kapitel 4

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Let it go / Vivaldi's Winter - The Piano Guys

Adiras trauriger Blick ging mir auch eine Woche später nicht aus dem Kopf, trotz der Tatsache, dass ich eigentlich keine Zeit mehr dafür hatte, um über irgendwas nachzudenken.

Tag ein, Tag aus war unser Haus voller Beamter, die allesamt behaupteten wichtige Dinge erledigen zu müssen. Immerzu wurde ich damit konfrontiert, dass mein Leben sich in wenigen Tagen komplett ändern würde und dennoch fühlte sich alles so unrealistisch an. Wie ein wahr gewordener Traum -oder vielleicht doch ein Albtraum? Ich war mir nicht sicher, was dies betraf.

Eigentlich versuchte ich die meiste Zeit auszublenden was mit der Selection auf mich kommen würde, aber mit jeder Sekunde, die verstrich, begann ich mich mehr davor zu fürchten. Allein der Gedanke daran, dass mich Tausende Menschen auf ihrem Fernsehbildschirm sehen würden, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ganz zu schweigen von den ganzen Erwartungen, die an mich gestellt werden würden. Ich wusste nicht, ob ich dem Druck Stand halten konnte.

Zwei Tage vor meinem Einzug in den Palast kam der letzte, und mir persönlich liebste Besucher in Form von einem kleinen, etwas kräftigen Mann mit freundlichem Lächeln, das allerdings seine ohnehin schwer übersehbaren Hamsterbäckchen nur noch hervorhob. Er strahlte durch seine respektvolle Höflichkeit eine gewisse Sympathie aus. Anders als die anderen Besucher der letzten Woche, benahm er sich wenigstens nicht gleich als wäre er zu Hause.

In unserer kleinen Küche klärte uns über die rechtlichen Dinge auf. Er hatte so viel zu erzählen, dass ich das meiste kurz darauf wieder vergaß. Der alles durchdringende Blick mit dem er mich ansah, als er nach meiner Jungfräulichkeit fragte, gehörte jedoch nicht dazu.

In Illéa wurde die Sache verdammt ernst genommen - gerade wenn es um den Prinzen ging. Aus diesem Grund wunderte es mich nicht, dass ich meine Jungfräulichkeit sogar schriftlich bestätigen musste.

"Gut, nun, da wir alles Notwendige besprochen haben, würde ich Sie bitten, dieses Formular auszufüllen. Es besagt lediglich, dass Sie all die Informationen heute zur Kenntnis genommen haben." er schob mir ein Blatt Papier rüber.

Rasch überflog ich, was dort stand und unterzeichnete.

"Vielen Dank. " er nickte mir lächelnd zu und wand sich dann an Mum. "Ach, Mrs. Ayres, ich habe noch den ersten Check für Sie." Als er ihr diesen überreichte, konnte ich erkennen, wie Mums Augen sich überrascht weiteten und ihr Mund sich leicht öffnete. "Wenn Sie bloß noch dieses Formular signieren würden, das bestätigt, dass sie den Check bekommen haben."

Ich gab Mum den Stift, den ich noch in der Hand hielt.

"Auch Ihnen vielen Dank. Dann wäre alles erledigt." Hamsterbäckchen kramte seine Sachen zusammen und steckte sie vorsichtig in seinen Aktenkoffer.

Gemeinsam mit Mum begleitete ich ihn zur Tür. Er bedankte sich für die Freundlichkeit und den Tee, den wir ihm angeboten hatten. Dann war er weg. Ich drehte mich zu Mum um.

"Wie viel ist es?" sprudelte es aus mir raus.

Sie blickte mich mit feuchten Augen an.

"Genug." und dann begann sie zu weinen. Und ich umarmte sie. Und ich weinte mit ihr. Und wir lachten.

Plötzlich war alles gut. Noch vor drei Wochen hatte ich um Mums Überleben gekämpft und jetzt war sie gerettet. Sie konnte ihre komplette Behandlung bezahlen. Sie würde wieder gesund werden und dann würden wir uns gemeinsam durch das Leben kämpfen. Und wir würden glücklich sein.

Fast so wie früher.

Mit einem Mal war all die Angst verflogen, die mich schon seit mehreren Wochen verfolgte. Mir schien nichts mehr zu schwer, kein Druck der Welt war unerträglich. Denn es konnte kommen was wollte, es konnte alles nur noch besser werden.

~*~

Die Zeit, die zwischen dem Klingeln und dem Öffnen der Tür verstrich, fühlte sich endlos lang an.

Ihre Mutter öffnete die Tür. Sie umarmte mich herzlich und bat mir, wie immer, einen Tee an. Ich lehnte ab.

"Ich denke, du möchtest zu Adira. Sie ist oben auf ihrem Zimmer." sie deutete zur Treppe.

Ich nickte dankbar und machte mich dann auf den Weg. Nie zuvor schien mir eine Treppe so lang und so anstrengend. Es war schrecklich und als ich endlich vor Adiras Tür stand, dachte ich tatsächlich darüber nach, einfach Kehrt zu machen.

Aber das war nicht richtig. So konnte ich nicht von hier weg.

Ich klopfte an. Drei Mal kurz, zwei Mal lang. Unser altes, geheimes Klopfzeichen.

Eine Weile hörte ich nichts, doch dann wurde die Tür geöffnet.

"Hi." flüsterte ich, beinahe so als hätte ich Angst davor, dass mich jemand anderes hören könnte.

"Hey."

"Kann ich reinkommen?"

Adira nickte. Ihr Zimmer war mir so bekannt. Die hellen, violetten Wände, die weißen Holzmöbel und natürlich ihr riesiges, wunderschönes Himmelbett, auf dem sie sich jetzt niederließ.

"Wie geht es dir?" fragte ich.

"Super, alles beim Alten. Und dir?"

"Auch."

Eine peinliche Stille erfüllte den Raum. Eine Stille, die mich so sehr erschreckte, dass ich einfach mitten im Raum stehen blieb. Die ganze Situation war schrecklich unangenehm. Niemand wusste, was er sagen sollte.

Aber ich wusste, ich konnte es nicht dabei belassen. Ich musste reinen Tisch machen.

Ich atmete tief ein.

"Weißt du, ich dachte, du würdest ausgewählt werden." meine Stimme war krächzig.

"Ich auch. Aber es war dumm, das zu glauben."

"Ganz und gar nicht. Adira, schau dich an - du bist einfach umwerfend und so voller Liebe."

"Aber du bist besser."

Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Die Tränen begannen nur so über mein Gesicht zu strömen.

"Das stimmt nicht. Das stimmt überhaupt nicht. Und glaub mir, du hättest es so viel mehr verdient. Ich möchte doch gar nichts von diesem hochnäsigen Prinzen. Ich habe mich da überhaupt nur angemeldet, um Mum zu retten." schluchzte ich. Die Kraft verließ mich und ich sank auf meine Knie.

"Deine Mum?"

"Sie ist todkrank, Adira! Ich habe jeden verdammten Tag gearbeitet, von früh bis spät, nur um ihre Behandlung irgendwann abbezahlen zu können."

"Warum hast du mir nichts gesagt? Meine Mutter hätte sicherlich geholfen..."

"Weil Mum es nicht wollte."

Wieder Schweigen. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen, die sofort nass wurden.

Ich konnte Adira verstehen. Sie vergötterte Prinz Aramis und ich hatte die Chance ihn kennen zulernen. Die Chance, die ich gar nicht wollte. Die Chance, die sie aber hätte glücklich machen können.

Aber konnte Adira mich etwa nicht auch verstehen?

Just in diesem Moment spürte ich, wie sich zwei Arme um mich legten.

"Ich bin so ein Vollidiot." murmelte Adira in mein Ohr. "Es ist natürlich nicht deine Schuld. Wie konnte ich auch nur überhaupt so etwas Blödes in Erwägung ziehen. Um Gottes Willen, wie doof muss man dafür sein. Ach Ella, ich hab es mir bloß so doll gewünscht, ich habe so sehr darauf gehofft. Und ich war eifersüchtig."

"Schon okay." schniefte ich. "Ich kann mir vorstellen, dass sich das blöd anfühlt."

"Ich hätte dich nicht so behandeln dürfen. Ich hätte mich für dich freuen sollen. Und das tue ich auch jetzt. Für dich und für deine Mutter."

"Danke. Das bedeutet mir eine Menge..."

"Und ich hätte es positiv sehen können - vielleicht freundest du dich ja mit Aramis an und stellst ihn mir dann vor." sie lachte leise auf und ich stimmte mit ein.

Und wir lachten immer lauter und lauter, bis wir uns einander wie gackernde Hühner in den Armen lagen und Max an der Tür klopfte, um uns zu sagen, wir sollten leiser sein.

Selection: Die HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt