3. Freitag III

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Nicht mehr meine Perspektive

Gestern ist einfach zu viel passiert, als dass ich mich hätte beruhigen können. Mein Kopf hatte genug damit zu tun, das Vorgefallene zu verarbeiten. Ich hatte genug damit zu tun, nicht völlig den Verstand zu verlieren.

Und ich bin jetzt immer noch vollkommen vom Hocker. Ich spüre bereits, wie einige Tassen aus meinem Schrank fallen und sich die ersten Latten vom Zaun lösen.

Vielleicht bin ich noch nicht bereit, um mit Mila ein Gespräch zu führen, aber mein Zustand wird sich wohl auch nicht mehr verbessern, wenn ich nichts tue. Also setze ich mich schließlich in mein Auto und mache mich auf den Weg.

Das, was Mila gemacht hat, hat mich sehr zum Nachdenken angeregt. Wie ist so etwas möglich? Dass so etwas möglich ist, kann ich nicht mehr abstreiten. Das war unglaublich. Ich habe so schrecklich viele Fragen an sie, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Hoffentlich haben sie ihr nichts angetan oder sie verletzt.

Das würde meine Schuldgefühle nur noch vergrößern.

Aber ich musste zu dieser Maßnahme greifen.

Egal, jetzt kann ich es sowieso nicht mehr ändern. Die restlichen Minuten der Fahrt konzentriere ich mich auf den Verkehr. Ich parke das Auto und steige aus.

Kurz betrachte ich das eigenartige Gebäude, das von außen gar nicht so aussieht, wie das, was es wirklich ist.

Ich mache mich auf den Weg zum Haupteingang und öffne die Tür mittels des Panikknopfes meines Vaters. Praktisch, wenn solche Plastikteile mehr als nur eine Funktion haben.

An der Rezeption begrüßt mich ein bekanntes Gesicht.

„Guten Tag, Lars. Was kann ich für Sie tun?", fragt mich die Sekretärin freundlich. Als mein Vater mich das erste Mal mit zur Arbeit nahm, war sie die erste, die ich hier traf. Und schon damals hat sie mich gesiezt. Hat mich sogar mit „Herr" angesprochen. Ich habe jedes Mal gesagt, dass sie mich einfach Lars nennen soll, aber ihre Manieren scheinen jedes Mal gesiegt zu haben. Nach einigen Jahren hat sie allerdings einen Kompromiss geschlossen: Sie nennt mich Lars, siezt mich aber noch immer. Damit kann ich leben.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?", fragt sie mich und mustert mich fürsorglich. Sie weiß hundertprozentig von dem Vorfall gestern. Ich bin gerührt davon, dass sie sich Sorgen macht. Sie war schon immer mehr eine Bezugsperson für mich als meine eigentlichen Eltern.

„Ja... alles in Ordnung", stottere ich, da ich mir nicht genau sicher bin. Ich bin wahrscheinlich noch immer verwirrt. Mit einem Lächeln versuche ich Lady Blue zu beruhigen. Den Kosenamen habe ich ihr nach meinem dritten oder vierten Besuch gegeben. Es hat mich als kleines Kind genervt so komisch angesprochen zu werden. Deswegen habe ich einen komischen Namen für die Dame gesucht. Allerdings gab es nur eine merkwürdige Sache an ihr, die ich nicht leiden könnte: Die hässliche blaue Uniform, die eher aussieht wie ein blauer Arztkittel. Vor einigen Jahren haben sie neue, besser geschnittene Arbeitskleidung bekommen. Trotzdem ist der Kosename geblieben.

„Sie hat Ihnen doch nichts getan?", hakt sie weiter nach. Ui, ich wirke wohl sehr lädiert.

„Nein, keine Sorge. Das konnte ich ja zum Glück verhindern", sage ich mit so ruhiger Stimme, wie ich zur Zeit aufbringen kann. „Aber... aber könnte ich möglicherweise mit ihr sprechen?" Meine Stimme klingt zittriger, als sie sein sollte. Habe ich etwa Angst vor ihr? Sie ist einen guten Kopf kleiner als ich und Mila ist schließlich nicht gefährlich.

„Tut mir Leid, das dürfen wir noch nicht. Es wäre zu riskant, Sie jetzt zu ihr zu schicken. Sie muss sich noch ausruhen", erklärt mir Lady Blue geduldig.

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