Never cry - Niemals weinen

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Die Morgensonne drang durch die schweren Samtvorhänge und ließ den Raum rot leuchten. Ich schlug die Augen auf. Schon wieder einer dieser ewig gleich aussehenden Tage. Seufzend klingelte ich nach Ann und schwang mich aus dem Bett.
Die Tür ging auf. "Guten Morgen Miss Mariah!" Ann ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. "Schauen sie, die Sonne lacht. Das muss doch ein gutes Zeichen sein, denken sie nicht?" Es war wirklich rührend wie sie versuchte mich aufzuheitern, doch meine Stimmung war nicht zu retten. Missmutig schlüpfte ich in das unbequeme Kleid das sie mir hinhielt, nachdem sie mich mit dem Korsett fast erstickt hatte.
"Tut mir wirklich Leid Miss, aber ihre Mutter bringt mich um wenn ich sie nicht angemessen anziehe. Sie wissen ja, die Regeln!" sagte sie entschuldigend, als könne sie Gedanken lesen.

Als ich in den Speisesaal kam war der Frühstückstisch schon Gedeckt. Die Anderen waren auch schon da. Vater blickte mit steifer Miene auf sein Brot und Mutter starrte benommen in ihren Tee. Was war bloß los? In den letzten Tagen lag permanent eine gewisse Anspannung in der Luft und es herrschte eine Bedrücktheit, für die ich selbst der beste Beweis war, aber heute war es anders. "Guten Morgen," murmelte Peter als Einziger.
Misstrauisch setzte ich mich an einen freien Platz und ließ mir Tee eingießen. Seufzend legte Vater sein Messer hin. "Heute Morgen ist ein Telegramm angekommen," begann er. Das klang gar nicht gut.
"Henry Donovan ist tot. Er ist an der Front gefallen." Langsam ließ ich die Teetasse sinken. Peter blickte erschrocken abwechselnd von Vater zu mir. Das Mitleid stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich selbst fühlte eine erschreckende Leere in mir. Als hätte der Tod nicht nur Henry, sondern auch mir das Leben ausgesaugt. Die Vorstellung ihn nie wieder zu sehen, nie wieder mit ihm zu streiten, all das war einfach zu viel für mich.
"Mariah, Schatz, ist alles in Ordnung mit dir?" Meine Mutter. Nichts war in Ordnung, alles in mir zerbrach. Ich hätte losheulen können, doch ich schluckte die Tränen runter, wie ich es schon immer mit meinem Frust getan hatte. Doch diesmal war der Schmerz unaufhaltsam.
"Ja, mir geht es gut. Abgesehen davon, dass ich gerade meinen Verlobten verloren habe." "Mariah..." fing mein Vater in ernstem Ton an doch ich unterbrach ihn. Ich konnte diese ganzen Benimmregeln und das Trostgeschwafel nicht mehr hören.
"Wann ist die Beerdigung? Je früher wir die Sache begraben haben, desto besser. Mir steht kein Schwarz, ich hasse es Trauer zu tragen."
Damit rauschte ich aus dem Raum. Mir war der Appetit vergangen. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Der Tod von Henry schlug mir eindeutig auf den Magen. Schwankend vor Übelkeit erklomm ich die Treppe im Flur. In meinem Zimmer ließ ich mich auf das tadellos gemachte Bett fallen. Benommen starrte ich auf die andere Betthälfte, als könnte ich damit bewirken, dass Henry jeden Moment rein kommt. Doch er kam nicht. Und ich fragte mich zum gefühlt hundertsten Mal was schlimmer war, das Warten und die Ungewissheit oder das Wissen, dass er nun tot war.

Es dämmerte schon, als Ann an meiner Zimmertür klopfte. Schnell stand ich auf und warf einen Blick in den Spiegel. Ich sah schrecklich aus. Ich fuhr mir kurz über die einst kunstvoll gesteckte Frisur und öffnete.
"Wie geht es ihnen Miss? Ich soll bescheid sagen, dass das Dinner in kürze fertig sein wird."
Ich zwang mir ein Lächeln auf. "Danke, mir geht es gut, ich komme gleich runter."
Ann schlüpfte ins Zimmer. Ich fürchte sie werden wohl oder übel etwas schwarzes tragen müssen, Miss."
Fertig fürs Dinner machte ich mich auf den Weg nach unten. Auf der Treppe begegnete ich Peter, der mir hoffnungsvoll zulächelte. "Das wird schon!" sagte er tröstend.
"Nichts wird schon. Er wird ganz bestimmt nicht von den Toten auferstehen! " Er tat mir Leid, und ich bereute es, ihn so grob behandelt zu haben, doch ich konnte einfach keine neue Zuversicht fassen. Peter ließ nicht locker. "Dennoch: Die Zeit wird deine Wunde heilen!"
Darüber dachte ich noch nach, als ich schon längst am Tisch saß. Auch Tante Evelin war da. Sie war etwas älter und aß einmal pro Woche mit uns, da Onkel James schon lange tot war. "Na, leben wir wieder?" fragte sie in einem Zuckersüßem Ton.
"Sie vielleicht..." sagte ich trotzig und wandte mich ab. Ich hatte sie noch nie gemocht. Normalerweise hätte mich jetzt ein strenger Blick von Mutter zurechtgewiesen, doch heute nicht. Keiner sprach, während wir darauf warteten, dass das Essen serviert wurde. Schließlich ergriff Vater das Wort:" Ich werde mich demnächst mit Mr. Hoover über das Erbe reden müssen. Ihr wisst schon, der Notar. Ich bin mir nicht sicher ob du, Mariah, etwas erbst-"
Ich hatte genug. "Es ist mir egal ob ich etwas erbe, von mir aus kann der Notar das Geld begraben, ich will es nicht! Ich will einfach nur Henry zurück, verstehst du das nicht?" Ich bemerkte erst jetzt, dass ich fast geschrien hatte, doch es war mir egal. Plötzlich kam alles auf. Die Tränen schossen aus mir raus, und all der Kummer, den ich verdrängt hatte kam hervor, all der Schmerz. Peter stand auf und legte beruhigend den Arm um meine Schulter. Alles würde gut werden. In meinem Herzen war nun Platz für all den Trost denn ich nicht hatte haben wollen. Und so langsam konnte ich Peters Worten glauben schenken. Der Schmerz würde nie verschwinden und im Moment war er größer denn je, doch er würde weniger werden.
Die Zeit wird deine Wunden heilen, Mariah.

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