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Ich verstaute die letzten Bücher im Regal und atmete tief durch. Es war doch recht anstrengend, umzuziehen! Aber endlich hatte ich wieder ein ruhiges Heim.
Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und rief mir noch einmal den letzten Gedanken in den Kopf. Ein ruhiges Heim... Ich war frei! Hier brauchte ich mich nicht mehr verstecken! Endlich, seit gut zehn Jahren konnte ich wieder ein ruhiges, normales Leben führen!
Ich schlug die Zeitung auf. Es gab nichts wirklich interessantes für mich, hier und da las ich von einigen Diebstählen oder entlaufenen Haustieren. Alles total öde! Doch plötzlich fiel mein Blick auf einen kleinen Artikel unten auf der Seite: "CHARLEEN BENETTI - BESTE PSYCHIATERIN IN GANZ FLORENZ?" Mit hochgezogener Augenbraue überflog ich den Artikel, dann fand mein prüfender Blick das kleine Foto. Mein Herz tat einen Sprung, mein Kopf leerte sich schlagartig. Meine Finger verkrampften sich, drückten sich in das gräuliche Papier, während ich spürte, dass sich mein Puls etwas beschleunigte. Irene... Meine über alles geliebte Irene... Sie war hier in Florenz? Sie lebte hier?
Ich stand auf und warf unkontrolliert die Zeitung weg. Das konnte nicht sein! Ich hatte mich doch nach all den Jahren endlich damit abfinden können, sie nicht wiederzusehen! Und nun war sie hier? Mit einem falschen Namen? Wollte sie sich etwa vor mir verstecken?
Ich leerte mein Glas Wein in einem schnellen Zug und schenkte mir gleich darauf ein neues ein. Dann starrte ich an die Decke: "Was soll das nur werden?", fragte ich leise. Ich schloss die Augen und trat in meinen Gedankenpalast. Ich wandelte allerdings nicht durch die gewohnten Korridore, nein, ich ging durch eben jene, durch die ich zuletzt vor zehn Jahren gewandelt war. Vor einer gewissen riesigen Flügeltür blieb ich stehen. Sie war weiß gestrichen und mit goldenen Ranken geziert. Zaghaft klopfte ich an. Die Türen öffneten sich und ich blickte in das vertraute zierliche Gesicht von Irene: "Kommst du tatsächlich nach all den Jahren noch einmal zu mir, Hannibal?", fragte sie. "Warum bist du hier?", fragte ich zurück. Doch sie schüttelte nur den Kopf und flüsterte: "Finde es selbst heraus! Neugierig genug bist du dafür!" Die Tür schloss sich wieder und ich öffnete die Augen. Der Griff um das Weinglas festigte sich kurz und ich hob die Zeitung wieder auf. Ein zynisches Grinsen zog über mein Gesicht. Ich sollte nicht der einzige sein, den die Schatten der Vergangenheit einholten...

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Müde trat ich durch die Eingangstür ein und schloss sie hinter mir. Ich war wohl wieder zuerst Zuhause. Schnell hängte ich meine dünne Jacke an die Garderobe und schlenderte dann in die Küche. Natürlich war ich wieder als erste Zuhause, wie sollte es auch anders sein?
Ich goss mir etwas Wein in ein Glas und ging dann ins Wohnzimmer. Dort stöberte ich in meinem Bücherregal. Mit einem Buch für psychologische Profile kuschelte ich mich auf das große braune Sofa. Ich kam bei einem meiner Patienten nicht wirklich voran. Eigentlich brauchte ich nicht sonderlich lange, maximal die erste Sitzung, um feststellen zu können, was der jeweiligen Person fehlte. Doch heute war ich mir nicht ganz schlüssig gewesen. Vielleicht lag es daran, dass heute Nacht Vollmond war und ich deshalb nicht sonderlich gut schlafen konnte. Das war schon immer so gewesen, es lag in der Familie: Meine Großmutter, meine Mutter und auch ich hatten dieses Problem.
Ich massierte mein Nasenbein und schlug das Buch auf. Ich ging das Register durch, um einige Vermutungen ausschließen zu können. Das Ergebnis ließ mich aufstöhnen: "Depression oder bipolare Störung. Na prima. Ich kenne bis jetzt nur die niedergeschlagene Seite des Patienten. Vielleicht begegne ich bei der nächsten Sitzung ja der euphorischen Seite, dann handelt es sich wahrscheinlich um eine bipolare Störung. Falls nicht, so werde ich mich nach solchen Phasen erkundigen. Ansonsten bleibt wohl nur eine Depression...", murmelte ich laut, während ich aufstand und das Buch wieder an seinen Platz stellte. Das muss ich mir schnell aufschreiben, dachte ich und lief schnell in mein Arbeitszimmer. Warum sich die Fachbücher meines Berufes dann im Wohnzimmer befanden, wenn ich doch ein eigenes Arbeitszimmer hatte? Die Antwort war einfach: Ich las solche Dinge gern im Wohnzimmer nach. Als ich damals vor etwa zehn Jahren studierte, hatte ich auch immer im Wohnzimmer gelernt. Es war zu einer Angewohnheit geworden, die ich nicht loswerden wollte. Immerhin beschwerte sich ja keiner. Warum sollte ich dann etwas daran ändern?
Ich hatte mir die neu gewonnen Erkenntnisse gerade auf einem Zettel notiert und diesen in mein kleines Notizbuch gelegt, da hörte ich schon eine sanfte Stimme aus dem Flur rufen: "Ich bin wieder da!" Mit einem Lächeln ging ich die Treppe hinab und wie eigentlich jedes Mal verschlug es mir den Atem...

Firenze di Notte - Shadows of the pastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt