Wieder dieser dunkle Flur. Von der Decke baumelte eine einzige nackte Glühbirne, das restliche Licht drang kalt aus der letzten Zelle. Aus seiner Zelle.
Ich wollte an diesem Ort nicht sein! Aber umdrehen konnte ich auch nicht. Meine Füße schienen ihren eigenen Willen entdeckt zu haben und schritten stets voran. Ich schluckte schwer, als ich einen kurzen Blick in die dunklen Zellen warf und mich vereinzelt die glasigen Augen der Insassen anblitzten. Dann erreichte ich die letzte Zelle. Die Zelle mit der Glasscheibe. Die Zelle, die ich so fürchtete. Nein, eigentlich fürchtete ich nicht die Zelle. Ich fürchtete das Ungetüm, das sich in dieser Zelle befand.
Er saß an seinem Schreibtisch. Den Rücken stets durchgedrückt wirkte er anmutig und majestätisch wie immer.
Er, der gefürchtete Kannibale.
Er, den ich so innig geliebt habe.
Er, Dr. Hannibal Lecter.
Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt, während das Stück Kohle in seiner rechten Hand bedächtig über das weich aussehende Papier glitt. Ich wollte etwas sagen, doch in meinem Hals bildete sich ein Kloß. Auch wenn es mir mehr als nur missfiel, so verkrampfte sich bei diesem Bild mein Herz. Kaum hörbar seufzte ich - und Hannibal hob den Kopf. Für einige Zeit starrten wir uns an, seine Augen fixierten mich. Kurz darauf verlor ich mich in diesen unendlichen Weiten von purstem Eis, dann sprach er mit metallischer Stimme: "Irene... Wie lange ist es her? Fünf Jahre? Kommen Sie mich tatsächlich nochmal besuchen?" Es stimmte. Nach seiner Inhaftierung hatte ich so ziemlich jede Nacht von Hannibal geträumt, manchmal von unserer gemeinsamen Zeit, aber meistens von solchen Situationen wie dieser gerade. Doch nach fünf Jahren hörte es abrupt auf - Bis heute: "Tatsächlich, ja. Ich hatte keine Wahl." "Das können Sie doch nicht ernsthaft glauben! Natürlich hatten Sie eine Wahl, Irene. Sie hatten immer eine Wahl. Sie hatten die Wahl, auf mich einzugehen, Sie hatten die Wahl, Ihr Studium zu beenden und wegzuziehen und Sie hatten die Wahl, nun wieder hierher zu kommen." Ich wollte etwas erwidern, beließ es aber bei einem stummen Nicken. Ich wollte nicht mit ihm diskutieren. Zumal er sowieso recht hatte: "Können Sie mir auch sagen, warum ich hier bin, Doktor?" Ich hatte ihn seit unserem letzten richtigen Treffen nie wieder persönlich angesprochen. Er legte den Kopf schief: "Irene, ich kann nicht in Ihren Kopf sehen." "Wieso nicht? Sie haben sich doch dort hineingefressen, Doktor! Sagen Sie mir, warum ich Sie nicht mehr hinausbekomme!" "Sie sind eine großartige Psychiaterin geworden, Irene. Sie schaffen das auch allein." Ich wurde langsam ungeduldig: "Dr. Lecter!" Er taxierte mich mit seinen Blicken, lächelte sein Lächeln, als wäre er der unschuldige Schuljunge und erhob sich langsam. Dann schritt er auf mich zu. Automatisch wich ich einen Schritt zurück und er senkte die Stimme: "Irene." Ich blieb stehen und sah ihm in die Augen. Sie funkelten irgendwie sehnsuchtsvoll und auch in seiner schnarrenden Stimme schwang nun eine gewisse Sehnsucht mit: "Hol' mich hier heraus. Du kannst diesen Anblick nicht länger ertragen, das merke ich." "Ich... ich kann doch nicht..." Er lehnte sich an das Glas, zwinkerte mir verführerisch zu: "Doch, du kannst. In deiner Hosentasche befindet sich der Schlüssel..." Ich griff sofort in die besagte Tasche und angelte tatsächlich einen Schlüssel daraus. Hannibal neigte den Kopf: "Na, was ist? Traust du dich nicht?" Ich konnte nichts dagegen tun, ging zum Schloss und öffnete tatsächlich seine Zelle! Ich wollte ihn dich gar nicht frei lassen! Oder etwa doch?
Plötzlich schoss Hannibal vor, packte mich an den Handgelenken und drückte mich gegen die Wand: "Du bist so unvorsichtig..." Dann strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht: "Mein Mädchen." Ich versuchte, mich zu wehren: "Nein! Das bin ich schon lange nicht mehr! Ich bin verheiratet, Hannibal! Ich bin fertig mit dir!" Er fixierte mich mit seiner ganzen Kraft und senkte den Kopf: "Oh nein... Du gehörst mir!" Dann grub er seine Zähne in meine Schulter. Schockiert stand ich da, presste die Augen so fest zu, dass es schon fast weh tat und stöhnte leise auf, als mich Schmerz durchzuckte: "Du hast mir damals etwas versprochen. Erinnerst du dich noch, Irene? Du hast versprochen, dass du nur mir gehörst. Aber du hast dein Versprechen nicht gehalten, du warst unhöflich. Du weißt, dass ich Unhöflichkeit nicht leiden kann, dass muss ich nicht noch einmal erläutern, oder?" Ich wimmerte: "Hannibal... Warum... hast du das getan?" Ich sah ihm in sein blutverschmiertes Gesicht, sah das diabolische Funkeln in seinen Augen, ein Glitzern der Gier. Dann fühlte ich, wie er meinen Geruch in sich aufnahm und leise lachte: "Du wirst dich niemals vor mir verstecken können. Ich werde dich immer finden. Immer. Du bist mein Mädchen!" Den letzten Satz sprach er so intensiv, dass es paralysierend auf mich wirkte. Das letzte, was ich sah, war, wie sein Lächeln immer weicher wurde, während ich auf den Boden sackte: "Du gehörst mir." Dann wurde alles schwarz...Ich erwachte und ein dünner Schrei glitt über meine trockenen Lippen. Aufrecht sitzend sah ich mich hastig um, suchte in der Dunkelheit nach meiner vertrauten Umgebung. Da spürte ich plötzlich eine Regung neben mir und im nächsten Moment sprang das Licht an. Ich kniff die Augen zusammen und hörte Francos Stimme: "Charleen, amore mio, du hast geträumt! Ist ja gut, ich bin doch hier." Wie ein Mantra sprach er die Worte leise und bedacht, während er mich in seine Arme zog. Schwach ließ ich mich gegen ihn sinken und schluckte meine Angst hinunter. Er durfte es einfach noch nicht wissen!
"Möchtest du darüber reden?", fragte er nach einer Weile und sank mit mir zusammen in die Kissen zurück. "Nein. Du musst morgen früh raus, entschuldige, dass ich dich geweckt habe." Seine braunen Augen leuchteten leicht: "Ach was! Du hast schlecht geträumt, das kann mal passieren. Dafür musst du dich nicht entschuldigen, Carina." Er hatte so viele verschiedene Kosenamen für mich, dass es nie langweilig wurde, ihm beim Sprechen zuzuhören. Ich schloss die Augen und bekam mit, dass er das Licht wieder ausschaltete: "Lass uns schlafen.", murmelte ich an seine Brust, woraufhin er nur etwas brummte und seine Hand in meinem Haar vergrub. Mit seinem Duft in der Nase übermannte mich dann schon bald wieder der Schlaf und diesmal sogar traumlos...
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Firenze di Notte - Shadows of the past
FanfictionZehn Jahre sind vergangen. Zehn Jahre, in denen Irene Pawlow, mittlerweile 35, viel erlebt hat. Sie dachte, dass eine neue Heimat ihr gut tun würde. Sie dachte, in Italien endlich die ersehnte seelische Ruhe zu finden. Doch dieser Frieden hält nicht...