1.

75 7 0
                                    

Ich sitze an meinem kleinen Schreibtisch. In unregelmäßig langen Abständen flackert das Licht der Neonröhre über meinem Kopf an der Decke. Barney muss beizeiten mal den Hausmeister kontaktieren. Ich habe keine Lust, meine kreative Phase im Dunkeln zu verbringen!
In meiner rechten Hand halte ich einen Bleistift. Ein Wunder, dass ich den haben darf! Obwohl, nach sechs Monaten guter Führung? Da verdiene ich doch wohl einen Bleistift, oder?
Wie von selbst fährt meine Hand über das weiche Papier. Jeder Strich ist gezielt, jede Schattierung gut durchdacht. Langsam wird ein Auge sichtbar. Warum mussten sie mir das erste Exemplar dieser Zeichnung nur wegnehmen? Gut, ich habe jetzt zwar wieder etwas zu tun, aber irgendwie gefiel mir der erste Versuch besser! Schade eigentlich...
Ein sehr bekannter Duft steigt mir in die Nase. Angewidert komme ich nicht umhin, das Gesicht kurz zu verziehen. Ich weiß genau, wer da kommt! Höflich bleiben, das ist jetzt ganz wichtig!
Ich lege den Bleistift weg und erhebe mich von meinem schlichten Holzstuhl: "Guten Morgen, Dr. Chilton." "Morgen, Hannibal. Was machen Sie denn da? Oh, verstehe, Sie malen." "Ich male nicht, ich zeichne. Da ist für mich ein wesentlicher Unterschied." "Unser Kunstkenner, ich vergaß! Was ZEICHNEN Sie denn da?" Dr. Chilton scheint es richtig zu genießen. Er versucht, mich zu provozieren. Aber da bin ich ihm über: "Ich zeichne ein Auge, Doktor." "Tatsächlich? Und was ist der Grund dafür?" "Verraten Sie es mir! Was könnte mich dazu bringen, ein Auge zu zeichnen? Faszinieren Sie mich mit Ihrem Scharfblick!" "Lass deine Spiele, Hannibal! Erzähl mir mal lieber, was du mit Rusty gemacht hast!" Ich hebe die Augenbrauen: "Was soll ich denn gemacht haben?" "Spiel nicht das Unschuldslamm!" Beim Wort "Lamm" muss ich schmunzeln. Dr. Chilton bleibt ernst: "Gestern Abend hat er sich die Gabel ins Handgelenk gestoßen. Mehrere Male. Dann hat die Nachtwache ihn gefunden." "Entschuldigen Sie bitte, Dr. Chilton. Aber nachts pflege ich zu schlafen." "Du bist Schuld, gib es zu! Erst die Sache mit Miggs damals und jetzt Rusty!" "Ein sehr taktloser und unfreundlicher Bursche war das!" "Ein Grund für dich, ihm einzureden, dass er Suizid begehen soll!" Ich beuge mich leicht zur Glasscheibe vor, Chilton tut es mir nach. Unsere Gesichter sind nur noch knapp zehn Zentimeter voneinander entfernt: "Du widerst mich an, du Monster!" Muss ich mich jetzt verletzt fühlen? Er sagt das fast jeden Tag zu mir. Aber immer bleibe ich ruhig. Doch jetzt muss ich einmal etwas erwidern: "Mein lieber Dr. Chilton, ich kann Ihre Meinung zu mir sehr gut nachvollziehen. Aber mir ist aufgefallen, dass Sie viele Menschen grundlos beleidigen. Warum tun Sie das, Dr. Chilton? Ist es Neid, der aus Ihnen spricht? Hassen Sie sich selbst und lassen dies an anderen aus? Was ist es?" "Nein, nein, nein Hannibal! Du kannst diesen Psycho-Quatsch bei anderen anwenden! Bei diesem Will Graham, bei der kleinen Starling... Aber nicht bei mir!" Ich verdrehe kurz die Augen. Ist es mir das wert? Oh ja, das ist es!
Ich fletsche die Zähne und knurre Chilton an. Dieser macht einen Meter zurück, fasst sich aber gleich wieder und sagt: "Das hätte ich an deiner Stelle lieber nicht getan!" Er ruft nach Barney, der mich mit einem Seitenblick bedenkt: "Nehmen Sie ihm die Utensilien zum Zeichnen weg! Und die Bücher! Und nicht zu vergessen: Die Klobrille auch!" Chilton geht, ich winke ihm grinsend. Dann höre ich Barneys Stimme: "Okay, Doktor, Sie kennen das Spiel. Jacke, Beißschutz, das volle Programm. Was haben Sie sich dabei gedacht?" Während er mir Jacke und Maske anlegt, erkläre ich: "Es schien mir ganz passend. Wenn ich ihn schon nicht analysieren darf, dann erschrecke ich ihn ein bisschen." Barney tritt ganz dicht zu mir heran und flüstert mir ins Ohr: "Das war eine gute Idee! Passen Sie auf, Doktor: Wenn er heute Abend geht, kriegen Sie die Klobrille wieder. Aber morgen früh müssen Sie sie wieder abgeben, damit er nichts merkt. Einverstanden?" Ich sehe ihn von der Seite an: "Einverstanden." Ich bleibe dabei: Barney ist ein feiner Kerl! Er macht das Leben hier unterhaltsam. Ganz anders als Chilton. Aber den habe ich bereits auf meiner Liste! Und irgendwann wird es ihm Leid tun, dass er immer so taktlos war! Ich lasse Barney seine Arbeit machen und sehe ihm entspannt dabei zu. Dass er mir meine Bücher wegnehmen muss, macht mich etwas traurig. Aber Chiltons erschrockenen Blick habe ich aufgesaugt wie ein Schwamm. Ich transferiere diese Szene in meinen Gedächtnispalast. Jetzt kann ich mich damit rund um die Uhr beschäftigen und habe meinen Spaß. Das kann mir niemand mehr wegnehmen! ...

Haben Sie nie plötzlich panische Angst gekriegt?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt