Wo ein Wille ist...

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Die Sonne schien ihm ins Gesicht, doch Johann machte keine Anstalten, sich aus dem Bett zu bewegen. Immerhin war Samstag. Und er hatte sich diese Auszeit verdient.
Er kam aus einer langen Schulwoche und sein Hirn war ausgelaugt.
Nicht, dass es ihm schwer fallen würde. Seine Grundschullehrer hatten seinen Eltern das Gymnasium empfohlen und sein Vater hat sich auf Drängen der Mutter dazu überreden lassen, die hohen Kosten zu zahlen. Damit wurde ihm ein Privileg zuteil, was nicht viele in Andorra hatten. Manfred ging, wie die meisten seiner Freunde, auf die Volksschule.
Dieses Privileg dankte er seinen Eltern mit konstant guten Noten, auch, wenn ihn Schule so gar nicht interessierte. Wenn er seinen Eltern erzählte, dass er einmal zur Armee will, nannten sie ihn immer nur verrückt. Seine Mutter meinte, es sei „eine Verschwendung von Talent", dabei beneidete er die Soldaten immer so. Er liebte ihre Uniformen, bewunderte ihre Tapferkeit.
„General Johann Peider", sagte er sich leise. „So wird man mich eines Tages nennen. So wird man mich nennen." Ein kurzes Lächeln flog über seine Lippen.
Das Lächeln hielt nicht lang, da klopfte es an seiner Zimmertür.
„Johann? Johann? Bist du da? Dein Vater will dich sprechen!" Die Mutter klang besorgt.
Aber Johann wusste, was jetzt kam, was jetzt kommen musste. Er hätte die Tür verschließen können, aber das hätte es nur schlimmer gemacht. Daher wartete er einfach in seinem Bett ab.
Der Vater ließ auch nicht lang auf sich warten. Wenige Sekunden nach der Ansage der Mutter sprang die Tür auf, der Vater, ein kräftig gebauter Mann mit Halbglatze, stürmte in das Zimmer.
„Ich...ich kann...", setzte Johann schon an, da wurde er mit einer derartigen Gewalt aus dem Bett gezogen, dass ihm die Luft wegblieb.
„Du hast mich blamiert! Vor der versammelten Menge! Blamiert hast du mich!", schrie der Vater los, wobei er Johann näher an sich heranholte, als es Johann genehm war.
„Blamiert hast du dich schon selber", antwortete er, eher zu sich selbst als zum Vater. Der bekam es natürlich trotzdem mit.
„Wie war das? Sag das noch einmal!" Blitzschnell hatte er den Handrücken im Gesicht, der Schmerz breitete sich rasend über seine gesamte, rechte Gesichtshälfte aus.
„Ich...ich sollte doch nur sagen, was...", wollte Johann seinen Vater beruhigen, doch er wurde unterbrochen: „Ich weiß, was deine Mutter dir gesagt hat!"
Johann musste unwillkürlich zur Tür schauen. Dort sah er seine Mutter, das blaue Auge war eindeutig zu sehen, obwohl sie versuchte, es mit ihren Haaren zu verdecken.
Er fühlte, wie ihm warm wurde, er hatte diese Wut in sich. Er traute sich bloß noch nicht, sie zum Ausdruck zu bringen.
„Sowas tust du nie wieder, verstanden?!", brüllte der Vater, die Hand vor Johanns Augen zu einer Faust geballt, bevor er stampfend aus dem Zimmer lief, die Mutter direkt hinterher.
Die Tür knallte zu, dass ihm die Ohren noch mehr weh taten, als ohnehin schon.
Und zu allem Übel hörte er auch noch dieses ständige Fiepen.
Es vergingen Stunden, in denen er einfach nur den Blick durch sein Zimmer schweifen ließ.
Er guckte sich noch einmal jedes Foto im Raum genau an, und das waren einige.
An Erinnerungen hielt er eben auf diese Weise fest, deshalb würde er auch nie eines dieser Fotos
abhängen. Eines starrte er besonders lang an. Das, auf dem sein Großvater in seiner Paradeuniform zu sehen war. Johann hatte er gehießen, genau wie er selbst. Und genau, wie der Großvater, wollte
Johann auch sein. Sein Modell einer Mauser G98 hing an der Wand, ihm direkt gegenüber.
Allein bei dem Gedanken an die Möglichkeit, einmal eine Echte zu halten, fing er wieder an, zu lächeln.
Langsam fand er seine positiven Gedanken wieder und entschied sich, etwas zu unternehmen.
Er verließ das Haus, ohne dabei bei den Eltern aufzufallen, und fand sich auf der Straße wieder.
Dort stand er wohl ein- oder zwei Minuten, bis er sich auf den Weg machte, das Dorf zu erreichen.
Er war erst wenige hundert Meter vom alten Haus entfernt, da sah er auch schon Manfred.
„Was machst du hier? Hast du mich etwa belagert?", fragte Johann scherzhaft. Die Antwort folgte sofort. „Eh, nein, ich wollte dich eigentlich abholen und...". Manfred starrte auf seine Wange.
„Um Gottes Willen, war er das?!"
Er wurde rot im Gesicht und fing an zu stottern, brachte gerade einmal ein „Nein, das...das war ein Unfall und die Küchentür und..." hervor.
„Schon klar. Wir reden nicht mehr drüber?"
„Ja bitte"
Schweigend gingen sie weiter, der blaue Himmel zeigte am Horizont schon dunkle Wolken, die Luft war drückend still. Die Sommermücken waren verstummt, auch die Vögel zwitscherten nicht mehr.
„Es liegt was in der Luft. Explosiv, man kann es jetzt nur erahnen. Ich hoffe, ihr habt euer Dach endlich gestopft, das wird ein kräftiger Sturm", meinte Manfred nach einigen Minuten der Stille.
„Ich merke es auch. Sogar die Blutsauger merken es". Sie hielten kurz inne und ließen die Stille auf sich wirken. Das war selten hier in Andorra, wo der Föhn für gewöhnlich durch die Täler wehte. Aber es war anders, ungewohnt und, auf seltsame Weise, bedrohlich.
Die Stimmung verflog jedoch wieder, als sich die beiden dem Marktplatz näherten, wo sie von schreienden Händlern, diskutierenden Männern und einer Vielzahl von Gerüchen, die die beiden die Gewitterluft weiter oben vergessen ließ. Der Bürgermeister gab, wie üblich, vor tobenden Mengen eine Erklärung ab. Doch Johann stand der Kopf gar nicht nach Politik.
Er war hierhergekommen, um im belebten Städtchen etwas Abwechslung zu finden.
Sein Blick fiel zuerst auf die Pinte, doch da konnte er sich vorerst nicht mehr blicken lassen.
Bei den Marktschreiern müsste er wohl etwas kaufen, doch er hatte kaum mehr genug für einen Apfel. Sein Blick streifte ein Restaurant, doch er traute sich nicht einmal, an die Preise zu denken.
Klar waren seine Eltern nicht arm, doch die könnte er jetzt wohl kaum fragen.
Doch beim Geruch von frischer Pasta knurrte ihm der Magen, obwohl er versuchte, es zu unterdrücken. Manfred war dies wohl nicht entgangen, da er Johann am Ärmel bis zum Restaurant zerrte. 'La Bella Cucina' hieß es auf dem grün-weiß-roten Schild über der Eingangspforte. Unter normalen Umständen hätte Johann gegen eine Mahlzeit auf Manfreds Kosten protestiert, doch er war zu hungrig, um das Lokal einfach so zu verlassen.
Sie setzten sich an einen Tisch, wo Johann schon ungeduldig mit Gabel und Messer hantierte.
Ohne mahnende Blicke seitens seines Freundes hätte er sich vermutlich aufgeschlitzt, so hungrig war er. Jede Minute, die er warten musste, kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Doch es war voll und das Lokal, das nach Zigarettenrauch stank, ausgelastet.
Nach 15 Minuten des Wartens kam endlich die Kellnerin. Johann war erstaunt, da sie ziemlich jung war. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter als er.
„Einmal Spaghetti Carbonara bitte", sagte er mit einem Grinsen, wie er es schon lange nicht mehr im Gesicht hatte.
„Eh...und ja, für ähh...und..."
„Für ihn Spaghetti Napoli bitte", führte er Manfreds wirres Gestotter zu Ende.
Der war währenddessen auch schon ganz rot geworden.
„Kommt sofort", sagte die Kellnerin, während sie Manfred zuzwinkerte.
Das brachte ihn endgültig zum schmelzen.
„Guck sie dir an!", meinte Manfred, was er nur mit einem Schmunzeln beantwortete.
So verging die Wartezeit. Johann hatte Mühe, seinen Magen bei Laune zu halten, der schon dabei war, das ganze Restaurant zusammenzuknurren, und Manfred schwärmte nur noch für das blonde, schlanke Mädchen, dem er eben am liebsten drei Stunden lang in die tiefblauen Augen gestarrt hätte. Die Leute unterhielten sich fröhlich, doch Johann spürte wieder dieses beklemmende Gefühl.
Er guckte in den Himmel, der sich in der Zeit kaum verändert hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass für Sommer erstaunlich wenig Wespen um die Gläser schwirrten. Doch bevor er zu sehr in diesen Gedanken versank, kam das Essen.
Seine Augen funkelten wie die eines kleinen Kindes an Weihnachten.
Manfreds Augen funkelten auch, jedoch nicht wegen dem Essen.
Doch darauf verschwendete er nicht einen Gedanken.
Gierig machte er sich über seine Pasta her, als wäre es das Erste, was er seit Tagen gegessen hätte.
Was, wenn er so darüber nachdenkt, auch nicht unbedingt falsch ist. Vor zwei Tagen hatte er das letzte Mal vernünftig gegessen. Hähnchen hatte es gegeben, eine Seltenheit.
„Isst du gar nichts?", fragte er Manfred, der nur in seinem Teller herumpickte.
„Was? Oh, doch doch, ich esse", antwortete er verträumt und drehte Spaghetti auf die Gabel.
Schweigend aßen sie weiter. Johann hatte seinen Teller in Minuten aufgegessen, doch Manfred aß kaum einen Bissen.
Er musterte ihn, als ihm aus dem Augenwinkel auffiel, dass sie die einzigen Gäste waren.
Alle anderen waren verschwunden. Als er sich umschaute, merkte er, dass alle auf die Straße gerannt waren. Er stand auf und rannte zur Menge, Manfred, der der Kellnerin im Vorbeigehen 10 Pfund in die Hand drückte, direkt hinterher.
Sie schauten zum Himmel, der mittlerweile schwarz wie die Nacht war. Die stille Luft war mittlerweile zu einem kräftigeren Wind geworden. Manfreds Haare wehten im Wind, als er Johann etwas sagen wollte. Doch schon im Ansatz wurde er von einem ohrenbetäubenden Lärm abgeschnitten. Im Dach vom Rathaus war ein Blitz eingeschlagen, Flammen schlugen heraus. Die Menschen rannten alle in die Gebäude des Platzes, als ein Regen einsetzte, wie er ihn noch nie erlebt hat. Die Winde peitschten das Wasser über den Platz, und Manfred wollte ihn zurück ins Restaurant zerren, das vor ihm die Türen schloss.
„Lasst uns rein!", schrie er und hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe. Doch es blieb zu.
Panisch schaute er sich auf dem Marktplatz um, doch alles hatte in Windeseile die Türen versperrt.
Die Marktschreier haben ihre Zelte zurückgelassen, und auch die Menge teilte sich in die verschiedensten Richtungen auf.
Er nahm Johanns Arm und rannte mit ihm quer über den Platz.
Wohin wusste er nicht. Einfach nur in Sicherheit.
Man sah die Hand vor Augen nicht, doch sie rannten einfach geradeaus.
Jeder Meter in diesem Sturm war wie eine Meile, und Johann konnte spüren, wie um ihn herum alles erlosch. Er war nicht besonders ausdauernd und der Gegenwind zehrte schon nach Sekunden an den Kräften. Ein letztes Mal schaute er zu Manfred, der ihn mittlerweile trug, dann wurde alles schwarz.

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