Als er wieder aufwachte, fand er sich in einem Laden wieder. Ein Antiquitätenladen, wie es aussah. Die Wände waren behangen mit Karten, Bildern, Uhren und einigen Dingen, die er nicht so einfach zuordnen konnte. Er setzte sich auf. Direkt vor ihm saß Manfred, mit Blut und Schmutz überzogen.
„Was... was ist..."
„Er hat dich gerettet!", meinte eine Stimme von der Seite. Sie klang alt und gebrechlich, hatte aber auch eine gewisse Ruhe in sich, die Johann sehr mochte. Er drehte sich nach links und blickte in das alte, eingefallene Gesicht eines Mannes, der der Ladenbesitzer zu sein schien.„Der junge Mann hat dich gerettet. Draußen ist totales Chaos. Wenn er nicht gewesen wäre... wo habe ich nur meinen Kopf. Man nennt mich Baumann, schön, dich kennenzulernen."
„Guten Tag Herr..."
„Baumann."
„Guten Tag Herr Baumann. Ich bin Johann, und das ist mein Freund..."Der alte Mann winkte ab, drehte sich um und begann, altes Geschirr zu polieren.
„Ich weiß, wer du bist. Manfred hat mir schon alles erzählt. Du bist der, der neulich in der Pinte vom alten Peider zusammengefaltet wurde. Der Suffsack wird sich schnell genug unter der Erde wiederfinden, wenn er so weitermacht."
„Sie kennen meinen Vater?", fragte Johann überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Vater sich schon so einen Ruf verschafft hat.
„Jeder kennt ihn. Der ist doch Tag und Nacht beim Wirt, trinkt sich das Leben schön. Seine Frau tut mir schon leid. Und du natürlich."
Der Wirt verschwand in einem Nebenraum. Johann sah sich im Raum um. Es war staubig und roch nach altem Holz und Pergament. Sein Blick blieb an einer alten Mauser G98 hängen. Genau die hing bei ihm im Zimmer. Er schaute zu Manfred hinüber, der im Sitzen eingeschlafen war.Er stand auf und stellte sich direkt vor das Gewehr, musterte es eingehend. Die Seriennummer machte ihn stutzig.
„Es ist ein Gewehr der Schwarzen, ja." Johann wirbelte herum.
„Ich... ich wollte nicht...", sagte er und schaute abwechselnd auf die Waffe und den Alten.„Soll ich dir etwas darüber erzählen?", fragte der alte Baumann und setzte sich auf einen Hocker, der neben Manfred stand.
„Die Waffe stammt von den Schwarzen, sie ist vor 70 Jahren nach Andorra gekommen. Damals, im Krieg." Johann guckte ihn fragend an.
„Es wird immer erzählt, Andorra habe seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr geführt. Alles nur, um die Schande von damals abzulegen. Ich war damals ein kleiner Junge, nicht älter als 12. Wir waren ein sehr stolzes Land, wie heute. Aber eines Tages zogen die Schwarzen bei uns ein. Unsere Armee hat sich kampflos geschlagen gegeben, unser Volk wurde von ihnen verdorben. Sie kamen an, als wäre es selbstverständlich, sie liefen durch unsere Straßen, sie stellten sich auf unsere Marktplätze und verlasen Anordnungen. Sie wollten...", seine Stimme stockte etwas. Johann stand reglos da.
„Sie wollten, dass wir alle jüdischen Andorraner verraten!"
„Und... was... was habt ihr getan?", fragte Johann, der Probleme hatte, Worte zu finden.
Baumann senkte den Kopf, doch er ließ nicht locker.
„Was denn nun?"Er merkte, wie seine Stimme ein wenig zittrig wurde. Der Blick des Alten sagte mehr als 1000 Worte.
„Andri. Es tut mir leid. Ich wollte es nicht. Wir wollten es nicht", war alles, was er herausbekam, bevor er wieder im Nebenzimmer verschwand.
Plötzlich meldete sich Manfred zu Wort.„Du glaubst dem alten Spinner kein Wort, oder?"
Johann war verwundert. „Ich dachte, du schläfst!"
„Habe ich nicht. Und was dieser Baumann erzählt, hört sich für mich an nach den Hirngespinsten eines klapprigen Greises, der kaum noch weiß, wer er ist! Unser Andorra würde so etwas nie tun! Vaterlandsverräter wie er gehören weggesperrt!"
Johann versuchte, ihn zu beschwichtigen. Vergebens. Manfred fing gleich wieder an zu schimpfen, als Baumann wieder den Raum betrat.
„Hören Sie doch auf! Sie lügen doch wie gedruckt! Unser schönes Andorra würde so etwas nie tun!", schrie er ihn an.
Doch der Alte blieb ruhig: „Es ist schade, dass du der Meinung deiner Eltern und Lehrer blind folgst, mein Kind. Wirklich bedauerlich. Eines Tages wirst du vielleicht zu der Erkenntnis kommen, dass ich doch richtig liege. Nichts und niemand ist vollkommen. Die Schwarzen sind kein Stück schlimmer als wir."
„Lügner! Sie wissen doch nicht, wovon sie reden! Komm, Johann, wir verschwinden hier!"
Johann guckte aus dem Fenster. Der Sturm hatte sich gelegt, aber es war mittlerweile schon dunkel draußen.
„Mein Kind, ich möchte dich nicht zwingen, es zu glauben. Aber ich versichere dir, du würdest nicht falsch liegen, würdest du mir vertrauen." Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, nachdem er diesen Satz sagte. Ein verständnisvolles, gutherziges Lächeln.
„Es reicht!", schrie Manfred, nahm Johanns Hand und rannte mit ihm aus dem Laden.Er sah dem alten Mann noch hinterher, schaute sich noch einmal im Zimmer um. Er wollte mehr wissen von dem, was er zu erzählen hatte. Von Andorra, dem Krieg, den Schwarzen. Und von Andri. Aber Manfred hatte ihn schon aus dem Laden gezogen. Nun standen sie am Rand des Marktplatzes. Die Dunkelheit verschleierte die Zerstörung, die der Sturm hinterlassen hatte. Man konnte nur anhand von herumliegenden Dachziegeln und Holzbrettern erkennen, dass er überhaupt stattgefunden hat. Johann lief langsam in Richtung des Weges, der ihn nach Hause führen sollte, dicht gefolgt von Manfred. An der Kreuzung zum Talweg, der Schotterstraße, die zum Haus der Peiders führte, drehte sich Johann um.
„Von hier aus schaffe ich es schon, keine Sorge. Gute Nacht!", sagte er und verschwand in der Dunkelheit, ohne eine Antwort abzuwarten.
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Andorra
RandomDie Stimmung im kleinen Andorra heizt sich auf, als der ungeliebte Nachbar im Norden es unter schweren Druck setzt. Johann, ein andorranischer Junge, steht vor den größten Herausforderungen seines Lebens: das Vaterland stützen, seinen Freunden beist...