Mondenkind

21 1 0
                                    

Im Mondlicht sehe ich sie stehen, sehe sie stehen und atmen. Ganz leicht nur hebt und senkt sich ihr Brustkorb, wie das ständige Auf und Ab des Lebens, und verdeutlicht den Herzschlag, der ihr Leben einhaucht. Während sie da steht, einfach nur da steht, am Ufer des kleinen Sees, und dem eigenen Atem lauscht, der unnatürlich laut in dieser natürlichen Stille hallt, scheint der Mond mit silbernem Licht sanft auf ihre blasse Haut. Nicht so hart wie Porzellan sieht es aus, aber auch nicht so kalt wie Schnee. Vielmehr scheint es, als bestünde sie aus purem Licht, aus Sternenlicht, zum Greifen nah und doch so unendlich weit entfernt. Die Weiten des Seins vereinen sich in ihr, und sie bemerkt es nicht einmal.

Mit sanften Fingern streift der kühle Wind ihr Haar, spielt mit den kurzen, dunklen Strähnen, lässt sie wiegen in seinen Armen. Vor ihr, auf der Wasseroberfläche flimmert ihr Spiegelbild, teilt sich in Wellen, die in die Welt hinaus getragen werden. Sie zittert, und klare Tränen fließen über ihre Wangen. Kleine Schluchzer dringen an mein Ohr, und obwohl sie mich nicht sehen kann, wünsche ich mir, dass sie weiß, wie gerne ich für sie da sein möchte. Auf sie zu gehen, sie in den Arm nehmen und wärmen, ihre Tränen hinfortküssen und ihre Augen zum Strahlen bringen, das möchte ich so gerne. Doch ich habe Angst, sie zu verletzen, habe das Gefühl, ein einziger Blick auf ihre vollkommene Schönheit könnte ausreichen, ihr weh zutun. Und mit jedem Schritt, den ich vorsichtig auf sie zu gehe, scheint die Stille zwischen uns größer zu werden, größer und tiefer. Noch ist der Schlüssel nicht gefunden, noch die Sprache nicht gelernt, doch werde ich nicht eher ruhen, bis die Tür nicht geöffnet und die Stille nicht gesungen ist.

Die Nacht, die sie umgibt, ist sanft, aber kalt. Ich weiß, dass sie frieren muss, so schrecklich frieren, denn sie hat nichts, um sich vor der Kälte zu schützen. Wie eine Elfe in den Klauen eines Dämons, eines unsichtbaren, unkenntlichen Dämons, erscheint sie mir, wehrlos, verängstigt. Doch in ihrem Innern sehe ich den Wunsch, wie pulsierende Energie, sich zu behaupten, Stärke zu zeigen, und sich nicht unterkriegen zulassen.

'Komm her', möchte ich ihr zuflüstern, 'Komm her, und ich werde dich wärmen, werde dir ein Lachen entlocken und wir werden gemeinsam in die Sonne blicken, ohne Angst vor den Schatten haben zu müssen, werden gemeinsam unter den Sternen zu tanzen, ohne die Dunkelheit zu verfluchen.' Und als hätte sie mich gehört, hebt sie ihren Kopf, scheint mir direkt in die Augen zu blicken. Die Klarheit, die sie in sich trägt, ergreift mich und erneut wünsche ich mir, ich könnte sie verstehen, dieses unglaubliche, faszinierende Geschöpf. Sie ist so voller Wunder, voller kleiner, entzückender Wunder und ich wünsche mir die Zeit, jedes einzelne zu entdecken und kennen lernen zu dürfen. Ich wünsche mir die Zeit, bei ihr zu sein, und ihr zu zeigen, dass ich da bin, bei ihr bin, mit ihr bin.

Doch während ich versuche, ihren Blick zu fangen, um ihre Seele zu berühren, wird mir schlagartig bewusst, dass sie mich nicht sieht. In ihrer Tiefe ist kein Platz für mich, so sehr ich mir das auf wünschen mag, denn sie ist zu stark, zu schwach, um mich zu sehen, zu fühlen, zu wissen. Ich kann nur hoffen, dass sie mich irgendwann, irgendwann sehen kann, so wie ich sie sehe. Klar und deutlich, so erscheint sie mir, aber manchmal frage ich mich dennoch, ob sie nicht ein Geist ist, ein Phantom, eine Erscheinung. Einzig mein Herz, das bei ihrem Anblick schneller schlägt, flüstert mir zu, dass sie kein Traum ist, kein Traum sein kann. Denn wäre sie ein Traum, dann wäre sie ein Teil von mir, und ich bin bei Weitem nicht fähig auch nur an ihrer Feinheit und Grazilität zu schnuppern. Während ich sie bestaune, dieses wunderschöne Geschöpf, das da steht im Mondlicht, und tief Luft hole, um nicht zu ersticken an ihrer ungewollten, federleichten Macht, steigt er mir in die Nase. Der Gestank von Verbranntem. Er haftet an ihr, scheint sich an ihr festzuklammern, fast mit ihrem Wesen zu verschmelzen, doch anstatt ihrer Schönheit zu schaden, scheint ihre Stärke zu erstrahlen, indem er ihren Schutzschild bildet, ihren unsichtbares Schutzschild.

'Du magst das Feuer', denke ich, 'Du magst den Schmerz, denn er lässt dich lebendig fühlen.' Ihre Lippen zittern, zittern noch immer, ob vor Kälte oder Angst, wer vermag das schon zu sagen. Vielleicht ist es auch beides. Vielleicht zittert sie aus Angst vor der Kälte oder aus Kälte vor der Angst.

Und dann erscheint diese Erinnerung vor meinem Auge, als wäre es erst gestern gewesen. Die Erinnerung daran, wie sie zum ersten und bisher einzigen Mal zu mir gesprochen hat, oder viel mehr als ihre wunderschöne Stumme zum ersten Mal in mein Universum drang.

'Die sengende Pein, der stechende Schmerz, das qualmende Fleisch, die stinkende Narbe.'
Aus meiner Erinnerung dröhnt ihre Stimme in meinem Kopf,
'Das ist es, was mich am Leben erhält.'
Ob sie mich da bemerkt hat, oder der Wind ihr meine Frage ins Ohr flüsterte, das weiß ich bis heute nicht, und das werde ich wohl auch nie wissen. Und je mehr mir bewusst wird, dass ich sie nicht erreichen kann, desto trauriger werde ich. Denn jedes Wunder der Welt sollte gesehen und gespürt, genossen und gelebt werden, und sie bildet keine Ausnahme. Ihr Lachen sollte die Welt erhellen, ihre Augen die Melodie des Lebens singen. Ihre Stimme sollte Leben schenken und ihre Berührung vom Frieden und von der Freiheit und vom Leben erzählen. Aber stattdessen steht sie da und weint, weint unter des Mondes traurigen Blick und unter des Windes zaghaften Berührungen.

'Vielleicht', denke ich, 'Vielleicht sollte ich mich dir nicht nähern, sollte dich in deiner Einsamkeit lassen, damit du für dich sein kannst. Vielleicht sollte ich versuchen, dich nicht zu verletzen, indem ich um deine Aufmerksamkeit buhle, aus Angst, ein falscher Blick könnte dir weh tun. Vielleicht sollte ich mich dir nicht nähern, damit wir beide, du und ich, nicht weiter zu Schaden kommen, aber es fällt mir schwer, so schwer. Ich glaube, ich habe erkannt, dass ich mich nicht von dir fern halten kann, ich kann es einfach nicht. Denn, was soll ich tun, ich glaube, ich liebe dich, Mädchen im Mondenlicht.'

MondenkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt