Anatomie

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Es ist ganz anders als in den Büchern. Haut ist so leicht zu vertrennen. Alles inneren Stukturen sehen ähnlich aus; Nerven, Arterien, der Ductus thoracicus, das größte lymphatische Gefäß des Körpers; die makroskopisch sichtbaren Drüsen, Muskulatur. 

Ich habe mich angemessen informiert und die guten, an Unis geläufigen Anatomiebücher gekauft. Lange bevor ich meine erste Bewerbung abgeschickt habe. Ich schicke jedes halbe Jahr eine neue los. Bisher ohne Erfolg. Aber ich werde noch angenommen werden, und bis dahin lerne ich allein, ohne Professoren, ohne ihre Folien der Vorlesungen und vor allem ohne die zur Verfügung gestellten Leichen. Ich weiß mir selbst welche zu besorgen. Ich sehe regelmäßig in den Nachrichten, dass hier und da mal jemand vermisst wird, der auf meinem Tisch landete. 

Aber jetzt konzentriere ich mich auf die Doktorantin, die heute an der Reihe ist. Ich möchte noch einmal die Arme und Beine durchgehen, da die Muskeln mir einfach nicht in den Kopf wollen. 

Ich nehme mir zuerst den rechten Arm vor. In Rückenlage schneide ich medial vom Schulterblatt liebevoll die Haut auf.  Mit der neuen Skalpellklinge muss ich gar nicht wirklich aufdrücken, das kalte Metall hinterlässt einen schmalen Streifen auf ihrer makellosen Haut. Ich war zu vorsichtig, die Unterhaut habe ich nur leicht angeritzt. Mit Hilfe meiner chirurgischen Pinzette halte ich die oberen beiden Hautschichten, die Epidermis und die Cutis, hoch, sodass ich problemlos die Subcutis durchtrennen kann. Den Schnitt verlängere ich, bis ich die Haut um den gesamten Arm geschnitten habe. Ich drücke dann den Arm am Humerus, dem Oberarmknochen, runter, sodass die Scapula mit der noch an ihr hängenden Muskulatur etwas angehoben ist. Dann durchschneide ich diese Muskeln, den Musculus triceps brachii, den Trapecius, den Brachialis, den Deltoideus und all die vielen anderen. Auch an den Seiten des Schulterblatts setzen Muskeln an, auch die schneide ich durch, denn darum geht es nicht. 

Da der Arm nur durch Muskeln am Thorax gehalten wird, muss ich keine Gelenke oder Knochen zerstören. Ich muss allerdings den Plexus brachialis und alle von ihm abgehenden Nerven kappen. Auch die Arterien und Venen kappe ich. Direkt durch die Arteria und Vena subclavia. 

Und schon habe ich ihren Arm in der Hand. Ich nehme ihn mit an den anderen Tisch, damit ich mehr Platz habe. Ich setze mit dem Skalpell an meiner vorherigen Schnittkante an und schneide, wieder sehr vorsichtig, bis auf den Handrücken die Haut auf. 

Sie ist schon so lang tot, dass das Blut geronnen ist und nicht bei jedem Schnitt an die Oberfläche tritt. Es steckt in Bröckeln in den Gefäßen. Das erleichtert die Arbeit erheblich.

Die Haut ist noch über Bindegewebe mit den darunter liegenden Muskeln, Gefäßen und Nerven verbunden. Diese Verbindungen kappe ich mit meinen behandschuhten Fingern. Mit der Skalpellklinge würde ich versehentlich die darunterliegenden Strukturen schneiden. Ich beginne, die Haut vom Handgelenk an bis proximal  vom Ellenbogen abzulösen. Weiter als bis zur Mitte des Oberarms löse ich die Haut nicht ab, da das Gewebe sonst sehr schnell austrocknet. 

Dann kommt die nervige Arbeit: die interessanten Strukturen vom Bindegewebe befreien. Zwischen die Spitzen der chirurgischen Pinzette einen Fetzen Bindegewebe nehmen und es langsam abziehen. Das weißliche Gewebe rutscht schnell aus der Pinzette und ich muss ständig neu ansetzen, um den nächsten Fetzen zu erwischen. Nach kurzer Zeit verkrampft sich meine Hand. 

Als die Muskeln vom Bindegewebe befreit sind, trenne ich die verschiedenen glänzenden Muskelbäuche voneinander. Dabei murmele ich die einzelnen Namen: Musculus extensor digitorum communis, dorsal davon der Musculus extensor carpi radialis, aus der anderen Seite der Musculus extensor digitorum lateralis. Die Funktionen der Muskeln sind klar: Strecker der Finger und des Handgelenks. Die antagonistischen Beuger heißen ähnlich: Musculus flexus carpi ulnaris, Musculus flexor digitorum superficialis und profundus. Auch die vielen restlichen Muskeln betrachte ich, ziehe und zupfe daran, um den Ursprung und Ansatz zu sehen, und präge mir ihren Namen ein. 

Okay, so langsam verstehe ich das System der Muskulatur im Unterarm. Und trotzdem finde ich es faszinierend, wie die Muskeln die Finger so präzise bewegen können. Einfach nur indem sie sich verkürzen. 



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Hallo
hier garantiere ich nicht dafür, dass es diese Muskeln beim Menschen wirklich gibt. Ich bin ja 'nur' Tiermediziner und es gibt - besonders im Unterarm -  Unterschiede. 

Haut lässt sich wirklich erstaunlich leicht mit dem passenden Werkzeug zertrennen. Ich habe schon oft an unseren Tieren den ersten Schnitt gemacht, aber es überrascht mich jedes Mal auf's Neue ;)


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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 07, 2016 ⏰

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