Seitenwechsel Teil 1

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Ich gleite durch einen Tunnel aus weißer Watte. Über mir Watte, rechts Watte, links Watte, unter mir ein fließender Strom aus Watte, der mich sanft voranschiebt. »He, Tom!« ruft eine Stimme. Gedämpft durch Wattewände erreicht der Schall mein Ohr. Wer ruft da? Und wer zum Teufel ist Tom?

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»Tom! Tom! Wach' auf, Tom! Was ist los?« So laut tut die Stimme mir weh. Eine grüne Wand rechts von mir, sie schwankt. Mir wird übel. Unter meinem Rücken fühlt es sich feucht und kalt an. Und hart. »Hallo, Tom!« ruft wieder eine Stimme, panisch und gellend. Eine Hand rüttelt meine Schulter. Ich muss Tom sein, denke ich.

Ich glaube, die Welt ist weiß. Eine endlos weiße Decke erstreckt sich über meinen Augen, rückt näher und entfernt sich wieder. Ein weißbärtiges Gesicht über einem weißen Mantel beugt sich über mich. »Bist du wach?«, fragt es und lächelt. Ich will sprechen, aber es ist nur ein Vogelkrächzen, das ich zustande bringe. »Wo bin ich?«

»Du hast einen kleinen Unfall gehabt, mein Junge«, sagt Weißbart, »keine Sorge, es wird alles wieder in Ordnung.«

»Unfall?«, krächze ich wieder, erschrocken über meine eigene, ungewohnt klingende Stimme.

»Sportunfall«, sagt das Bartgesicht und lächelt wieder. »Du musst jetzt ein paar Tage bei uns bleiben, dann bist du wieder gesund.«

Das Stichwort »Sportunfall« ruft mir aus weiter Ferne etwas in Erinnerung. Sport ... das Trainingslager ... die Berufung in die Bayerische Jugendauswahl ... das internationale Fußballturnier am Ende der Ferien ... ach, du große Scheiße!, denke ich, das war's also. Aus! Vorbei! Das sichere Gefühl: Mit der Profikarriere wird es jetzt wohl nichts mehr werden ...

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Manchmal sind es auf den ersten Blick unscheinbare Entscheidungen, die geeignet sind, einen aus der Bahn zu werfen. Bei mir fiel eine solche Entscheidung, als ich knapp 15 war. Ich traf sie aus ... tja, warum wohl eigentlich? Berechnung jedenfalls war es nicht, eher schon so etwas wie spontane Sympathie und das nicht weiter reflektierte Bedürfnis, Schwächeren beizustehen. Es war Sommer, meine Mutter und ich – bei zwei sehr viel älteren Geschwistern ein gefühltes Einzelkind – verbrachten zwei Wochen Ferien in Österreich, in Kärnten, am Klopeiner See, von dem es hieß, er sei einer der wärmsten Badeseen in ganz Europa. Unser Quartier war ein Bauernhof, der auch drei oder vier Gästezimmer vermietete. Das Schuljahr war halbwegs erfolgreich zu Ende gegangen, endlich mal hatte ich sogar in Mathe, meinem Angstfach, ein »Befriedigend« erreicht. Vor allem aber gab es verlockende Perspektiven außerhalb der Schule: Ich lief die 100 Meter in knapp über 13 Sekunden, sprang über fünf Meter weit, nur mit dem Kugelstoßen, da haperte es, aber summa summarum waren meine sportlichen Leistungen so, dass ich als Jahrgangszweiter des Gymnasiums in München, das ich besuchte, eine Ehrenurkunde bekam. Meine Mutter platzte schier vor Stolz, rechnete sich aber einen Teil des Verdienstes an meinen Leistungen selbst an: Sie hatte es in den 1930er-Jahren zur sächsischen Jugendmeisterin im Hochsprung gebracht.

Ich nehme an, es hat sie ein wenig enttäuscht, dass ich für die Leichtathletik dennoch nie wirklich nachhaltiges Interesse aufbrachte. Mein Herz schlug für Fußball, genauer gesagt für die Münchner Löwen, die damals – 1964 – gerade die Frankfurter Eintracht mit einem 2:0 im Stuttgarter Neckarstadion im Pokalfinale besiegt hatten und sich damit auf dem besten Weg in die europäischen Wettbewerbe waren. Kein Wunder, dass es für mich nur einen Traum gab: Später einmal im Stadion an der Grünwalder Straße auflaufen und gegen Bundesligavereine wie den Hamburger SV oder Schalke 04 antreten – die »Bayern«, das sei gerne vermerkt, spielten damals in München nur die zweite Geige. Ich trainierte, was Stiefel und Stollen hergaben, und war überglücklich, nachdem ich das Interesse eines Verbandstrainers geweckt hatte. Er verhieß mir eine große Zukunft, er sprach von »kometenhafter Karriere«, und sorgte dafür, dass ich in den Kader der Jugendauswahl des Bayerischen Fußballverbandes berufen wurde. Auf dem rechten Flügel sollte ich bei dem bevorstehenden B-Jugendturnier der europäischen Jugendauswahlen dank meiner Schnelligkeit am Ball für Druck und Tempo sorgen. Wo ich hinhörte, war von einem »hoffnungsvollen Talent« die Rede oder von »Tom dem Flitzer«

Bis zum Beginn meiner erhofften steilen Karriere waren es nur drei Wochen, als wir in die Ferien fuhren. Klar, dass ich auch in Südkärnten meine Fußballleidenschaft nicht vergaß. Es dauerte lediglich zwei Tage, bis ich herausgefunden hatte, wo die Dorfjugend trainierte, und mein blauweißes Sechziger-Trikot mit dem schwarzen Löwen auf der Brust sorgte für respektvolle Blicke. Oswald der Nachbarsjunge, genannt »Ossi«, den ich über den Gartenzaun kennen gelernt hatte, stellte mich den anderen Buben vor. Mit trickreichen Dribblings, gefühlvollen Flanken und manchen Tipps für ein erfolgreiches Zusammenspiel hatte ich meinen Platz beim regelmäßigen Kick am Nachmittag sicher. Als dann auch noch meine Berufung in eine Verbandsauswahl bekannt wurde – ganz bescheiden sorgte ich selbst für die Verbreitung der Nachricht –, wuchs die Bewunderung schier ins Grenzenlose. Ossi, Benno, Sepp, Rudi, Bertl und wie sie alle noch heißen mochten, ließen mich rasch heimisch werden.

Einmal in der Woche gab es ein von Ossi und Bertl organisiertes Spiel gegen ein Team aus der Nachbarschaft. Wie es der Zufall wollte, ging es an jenem späten Freitagnachmittag gegen die »Schlawiner«, wie die Jungs aus der in Südkärnten lebenden slowenischen Minderheit wenig respektvoll betitelt wurden. Es war ein bunter Haufen, der sich uns da gegenüber versammelte, viele schwarz behaarte Köpfe, braune Haut, dunkle Augen, einige sehr schmächtige Bürschchen darunter, andere dagegen eher noch etwas derber wirkend als die Kärntner Bauernjugend. Nikola, genannt »Niko«, der Kapitän, unterschied sich. Er war dunkelblond und hatte blaue Augen und trat mit mehr Selbstbewusstsein auf, als es seine Landsleute taten. Mich beäugte er neugierig und, wie es mir schien, mit auch etwas mehr Sympathie als die Buben aus dem Urlaubsort, von denen er vermutlich nichts Gutes erwartete,

Ossi und seine Kumpels hielten in der Tat wenig von den »Schlawinern«, nicht nur fußballerisch, sondern auch sonst – alles Herumtreiber, Diebe und Lügner, gemein, fies und faul – ... na ja, sie reproduzierten jedenfalls munter die herrschenden Vorurteile ihrer Eltern und älteren Geschwister. Sie taten es so erfolgreich, dass auch ich ihnen einigermaßen misstrauisch gegenübertrat und es für wahrscheinlich hielt, dass man sich auf dem Spielfeld vor ihren bösartigen Tricks und Fouls in Acht nehmen müsse.

Zur Platzwahl und zur Auslosung des Anstoßes standen sich die beiden Mannschaften gegenüber. Abschätzig musterten Ossi und Bertl die Reihe der ziemlich uneinheitlich gekleideten Gegenspieler mit teils eingerissenen, nicht immer ganz sauberen Sporthemden, abgelatschten Turnschuhen und rutschenden Stutzen. »Wir Hemd, ihr Haut«, entschied Ossi mit herablassendem Grinsen. Damit war die Trikotfrage auf simple Weise geklärt. Dass Ossi damit auch eine Erniedrigung seines Gegners beabsichtigte, war offenkundig: Hier, so lautete die unausgesprochene Botschaft, die zivilisierten Großbauernsöhne, dort die halbnackten Eingeborenen, deren Väter und Mütter nicht selten als Angestellte und Arbeiter eben dieser Bauern ihr Geld verdienen mussten. Die Dorfmannschaft besaß Heimrecht, und auch deswegen blieb den slowenischen Jungs nichts viel anderes übrig, als sich ihrer Hemden zu entledigen und sich oben ohne in die Schlacht zu werfen.

Diese endete, kurz und knapp zusammengefasst, in einem Desaster, an dem ich nicht unbeteiligt war. Schon nach einer halben Stunde stand es 4:0 für die Kärntner, zwei Tore hatte ich selbst erzielt, ein weiteres durch eine butterweiche Flanke auf Sepps Wuschelkopf vorbereitet. Die zweite Hälfte verlief nicht viel besser. Am Ende stand es wie beim WM-Halbfinalspiel 2014 Deutschland gegen Brasilien 7:1, und die Niederlage dürfte sich für unsere Gegner nicht viel besser angefühlt haben, als es die brasilianische Selecao vor heimischem Publikum empfunden haben dürfte. Ich steuerte noch ein drittes Tor bei und hätte ich nicht in einer der letzten Spielminuten den Ball bei einem Freistoß mit voller Absicht in den inzwischen rötlich dämmernden Abendhimmel gejagt, hätte es sogar 8:1 geheißen. Ich tat den Fehlschuss, weil ich in den Augen meines direkten Gegenspielers, den ich ein ums andere Mal erfolgreich umkurvte und zweimal getunnelt hatte, die pure Verzweiflung zu sehen glaubte. Er war mit Sicherheit jünger als ich und körperlich unterlegen; irgendwann tat er mir leid und ich wollte, soweit es ging, ein fairer Gegner bleiben. Mir war nicht nach Demütigung zumute.

Der Reaktion meiner Kärntner Mitspieler nach ging dieser Sieg gegen die »Schlawiner« ob seiner Höhe in die Geschichte der örtlichen Fußballjugend ein. Soviel Schulterklopfen hatte ich selten erlebt. Ich fühlte mich einerseits großartig, schon auf dem unaufhaltsamen Weg zum kommenden Star; auf der anderen Seite nagte ein leiser Zweifel in mir. Das war doch alles viel zu einfach gewesen, sagte eine Stimme in meinem Kopf, und sie fügte hinzu: Werd' nur nicht übermütig. Ich war aus unserem Team der Einzige außer unserem Kapitän Ossi, der Niko nach dem Spiel die Hand gab. Er sah mich an und sagte nur einfach: »Dobre!« Er merkte an meinem fragenden Blick, dass ich Slowenisch nicht verstand, und meinte in gebrochenem Deutsch: »Du sehr gut – dobre.« Er sagte es ohne jeden Neid.


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