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Ich stehe in einer bunten Blumenwiese. Plötzlich sehe ich in der Ferne einen kleinen Punkt, der sich auf mich zubewegt. Ich setze mich ins Gras und lehne mich zurück. Wer auch immer da kommt, wird noch ein bisschen brauchen. Ich schließe meine Augen und höre das Summen der Bienen, rieche die Blumen um mich herum und spüre den Wind, der sanft über mein Gesicht streicht. Ein fremdes Gefühl macht sich in mir breit. Ich fühle mich... sicher, denke ich.Ja, ich glaube, dass ist es. Ich könnte noch endlos hier so liegen bleiben, aber irgendjemand scheint meine Ruhe stören zu wollen. Ich öffne wieder die Augen und richte mich auf. Der junge Mann, wie ich es jetzt erkennen kann, ist nicht mehr als 20 Meter entfernt. Ich studiere das Gesicht der Person und reiße erstaunt meine Augen auf, als ich erkenne, wer es ist. "Ronnie" ruft er glücklich und lacht. Ich spüre wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breitmacht.
"Hey", erwidere ich und dann fange ich an zu laufen. Ich habe ihn solange nicht wiedergesehen, Lucas, meinen besten Freund. Er ist stehengeblieben und wartet auf mich. Ich bin nur noch einen Meter von ihm entfernt und habe schon meine Arme ausgebreitet, als plötzlich vor mir der Boden aufreißt. Ich versuche abzubremsen und komme genau an der Kante zum Stehen. Mein Herz pocht schneller, während ich versuche mich auszubalancieren. Ich schaue nach unten und erkenne einen Schacht, der mich und Lucas voneinander trennt. Der Schacht unter mir scheint endlos zu sein. Je weiter man nach unten sieht, desto mehr Schatten schleichen sich in das braun der Erde. Ein Ende ist nicht zu sehen, nur gähnende Leere. Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe, schaue ich auf und begegne Lucas geschocktem Blick. "Ach du Scheiße, was war das denn", fragt er schockiert. "Ich.. Ich weiß nicht", stottere ich. Fast wäre ich in einen Schacht gefallen auf einer Blumenwiese. Das passt einfach nicht zusammen.
Auf einmal zieht ein starker Wind auf und mir fröstelt. Ich blicke mich um und zucke zurück. Die schöne Blumenwiese sieht auf einmal total hässlich aus. Es sieht alles farblos aus und dunkle Wolken haben sich am Himmel aufgebraucht. "Was ist hier los?" fragen wir gleichzeitig. Ich sehe ihn an und muss fast schmunzeln. Aber unter diesen Umständen ist es einfach nicht so, wie es sonst wäre. Der Wind frischt auf und es sieht aus, als würden die Wolken sich auf uns zubewegen. Doch auf einmal ist es völlig windstill. Generell ist es ziemlich still. Man hört kein einziges Geräusch. Mir wird mulmig und ich werfe Lucas einen Blick zu. Er erwidert ihn und ich bin mir sicher, wir haben den gleichen Gedanken. Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich halte den Atem an und warte auf das Ungewisse. Gerade als ich denke mich geirrt zu haben, passiert es. Es donnert. So laut und tausendmal hintereinander. Es hört einfach nicht auf. Der Wind setzt wieder ein, aber viel kräftiger als vorhin. Ich halte mir die Ohren zu, aber die ohrenbetäubenden Donnerklänge gelangen immer noch zu mir. Dann werde ich stutzig. Für Donner ist das viel zu unnatürlich. Zu hoch. Und jetzt realisiere ich, das es sich um meinen Wecker handelt.

Ich unterdrücke die Tränen, die in mir hochkriechen wollen. Wieder ein Traum von ihm. Ich will Lukas doch einfach vergessen. Aber mein Unterbewusstsein macht mir da nachts immer einen Strich durch die Rechnung. Wenn ich mich morgens an meine Träume erinnern kann, dann ist er immer da. Aber ich kann ihn nie erreichen. Immer kurz bevor ich bei ihm bin, werden wir von etwas getrennt. Manchmal ist eine Glaswand, manchmal eine Mauer, manchmal eine Menschenmasse. Und jetzt ist ein Schacht. Das ist neu. Meine Träume wiederholen sich immer, aber diesen hatte ich noch nie. Es beunruhigt mich. Reiß dich zusammen, Mädchen, denke ich mir und kneife mir in den Arm. Es war nur ein Traum. Der sagt gar nichts aus. Ich schaffe nicht ganz, das beunruhigende Gefühl zu verdrängen, aber nach außen hin hab ich mich wieder so weit gefasst. Das muss ich auch. Ich bin Ronnie, die unnahbare, kontrollierte und eiskalte Ronnie. Nichts kann mich aus der Ruhe bringen. Zumindest nach außen hin. Ich weiß nicht, ob nur mir es so geht, aber ich denke so oft, dass alles, was andere von mir wissen, eigentlich nur 1% ist, von dem, was mich wirklich ausmacht. Okay, das klingt echt krass. Aber irgendwie ist es so. Die Leute wissen eigentlich nichts über mich. Nur wie ich war, als Lukas da war. Warum war ich damals nur so naiv und habe geglaubt, dass immer alles gut wird. Jetzt weiß ich es besser. Ich setze mich auf und schaue auf den Wecker. 06:43 Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann muss ich zur Schule. Ich seufze. Die alle dort gehen mir doch einfach nur am Ar*** vorbei. Wie jeder andere Schultag wird er an mir vorbeiziehen, wie die Landschaft in einem Zug.

Ich hab verschiedene Ansichten. Einerseits kümmere ich mich nicht um andere, zum Beispiel in der Schule, aber auch Außerhalb. Ich meine ich hätte mich schon so oft durchringen können bei meinem Vater im Büro zu spionieren, aber irgendwie möchte ich das auch nicht. Ich will mich raushalten aus alldem. Aber manchmal möchte ich den Menschen helfen, ihnen ein besseres Leben schenken, als ich es habe. Für diese Aussage würden mich Menschen hassen, wenn ich das sagen und nicht nur denken würde. Ich meine, ich habe ein Dach über dem Kopf, ein Bett, ein eigenes Zimmer und mein Vater verdient sogar ziemlich gut. Aber trotzdem bin ich nicht glücklich! Es gibt bestimmt Obdachlose die sind glücklicher als ich. Und ich hasse mich dafür, dass ich nicht glücklich bin. Denn ich sollte mich glücklich schätzen für das was ich habe. Ich sollte es nutzen. Aber was mache ich? Ich bin hoffungslos und gebe anderen Menschen nicht einmal eine Chance, mich besser kennenzulernen. Ich habe eine Wahl und nutze sie nicht. Andere haben keine und bräuchten sie so dringend. Ich seufze frustiert auf und raufe mir meine Haare. Mein Leben ist zum Verzweifeln. Und ich stehe in dem Haufen Glasscherben und tue nichts. Immer wenn sich die Möglichkeit bietet, bei meinem Vater etwas Auffälliges in seinem Büro zu finden, bin ich wie erstarrt. Ich kann mich nicht bewegen. Vielleicht habe ich ja eine Störung. Ich glaube es liegt eher an dem, was mit meiner Mutter passiert ist.

ScheinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt