*Flashback*
"Ciao" rief ich Lukas noch einmal zu, bevor ich die Haustür aufschloss. Er lächelte mich kurz an und fuhr dann mit dem Fahrrad weiter. Heute war ein wunderschöner Sommertag gewesen, mit strahlend blauem Himmel und leichtem Wind, der die Hitze erträglich machte. Lukas und ich waren zu einem See im Wald gefahren und schwimmen gegangen. Jetzt war es schon nach 10 Uhr und es wurde langsam dunkel. Ich drückte die Tür mit dem Arm auf, weil ich in der einen Hand meine Tasche und in der anderen den Schlüssel hielt. "Hey Mum" meinte ich und schloss die Tür. "Bekomme ich keine Antwort?" grinsend stellt ich meine Tasche im Flur ab. Wir zogen uns gegenseitig immer damit auf, dass wir nie antworteten, weil wir immer so vertieft waren bei dem was wir taten. Wahrscheinlich las sie gerade oder war ganz vertieft in ihre Arbeit. Auf jeden Fall machte ich mit Schwung die Wohnzimmertür auf, in Erwartung das konzentrierte Gesicht meiner Mutter zu sehen. Stattdessen sah ich nichts. Niemand saß auf dem Sofa oder am Esstisch. Hatte sie sich schon schlafen gelegt? Das verwunderte mich. Sonst war meine Mutter immer die letzte, die ins Bett ging. Ich runzelte die Stirn.
"Mum" rief ich diesmal etwas lauter. Wieder keine Antwort. Es war beunruhigend still. Plötzlich hörte ich ein Tropfen. Das kam aus dem Bad. Ich weiß gar nicht, warum ich es vorher noch nicht bemerkt hatte. Schnell lief ich ins Bad. Doch auf der Türstelle blieb ich stehen und erstarrte. Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus, doch dann fiel mir ein Stein vom Herzen. Der Wasserhahn war nur nicht richtig zugedreht. Ich ging auf das Waschbecken zu, um ihn zuzudrehen. Und dann sah ich es. Das Wasser mischte sich mit etwas rotem, dickflüssigen. Im Waschbecken war Blut. Mir wurde übel und ich musste mich für kurze Zeit an der Wand abstützen. So etwas hatte ich schon zu oft in Büchern gelesen, aber es im echten Leben selbst zu erleben machte es viel schlimmer. Dieses Gefühl, wenn du weißt, wenn irgendjemand gerade Schmerzen leiden muss. Wenn dieses Blut von meiner Mutter war... Ich versuchte den Gedanken nicht zuende zu denken, aber grauenvolle Bilder machten sich in meinem Kopf breit und ich konnte sie nicht ausschalten. Ich wimmerte und wusste nicht, was ich tun sollte. Im Nachhinein wäre es am schlauesten gewesen alle Räume zu durchsuchen und irgendeinen scharfen Gegenstand zu holen um meine Mutter zu retten und mich zu verteidigen. Weil irgendwie sah dieses Blut ganz und gar nicht nach einem Missverständnis aus. Das konnte ich jetzt nicht mehr glauben. Ich machte das natürlich nicht. Ich bin nicht mutig und ich bin auch keine Heldin. Deshalb schloss ich leise die Tür und kauerte ich mich in der Badewanne zusammen. Ich hörte ein Wimmern und erkannte, dass ich das selber war. Dann hörte ich ein Geräusch an der Tür und schaute hastig auf. Doch da war nichts.
Was machte ich hier? Sollte ich nicht da draußen sein und meine Mutter vor was weiß ich bewahren?
Ich löste langsam meine Finger, die ich ohne es zu bemerken, krampfhaft in meine Handinnenfläche gedrückt hatte. Dort erschienen jetzt weiße Halbmonde auf meiner Haut. Dann löste ich mich aus meiner Positon und versuchte so leise wie möglich aus der Wanne zu klettern. In der Totenstille hörte man jedes noch so kleine Geräusch. Totenstille. Wo war meine Mutter? Hatten sie sie etwa mitgenommen? War sie tot? Und wer waren SIE?
Und dann hörte ich etwas. Als erstes ganz leise. Ich erstarrte in meiner Haltung, ein Bein auf dem Boden, eins noch in der Badewanne. Man hörte ein Wimmern, einen Schmerzenslaut. Es war wieder kurz still, dann war es wieder zu hören. Das war meine Mutter. Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte und mir Tränen in die Augen schossen. Schnell zog ich mein Bein aus der Wanne und ging auf die Tür zu. Kurz bevor ich die Tür erreichte mischte sich plötzlich eine harte Männerstimme zu dem Wimmern meiner Mutter. Ich erstarrte und fühlte wieder diese Angst in mir hochkriechen aber ich fühlte auch noch etwas Anderes. Wut durchströmte mich wie eiskaltes Wasser. Um mein Herz schloss sich ein Eisklumpen, der alle positiven Gefühle verschwinden ließ. Mörder. Quäler. Unmensch. Die Wut durchrauschte mich wie ein Blitz und dann war alles vorbei und auf einmal konnte ich wieder klar denken. Ich musste mir einen spitzen Gegenstand suchen. Und zwar schnell. Ich sah mich um, meine Augen glitten über die Dusche , Toilette, den Badezimmerschrank, und das Waschbec... stopp. Der Badezimmerschrank. Ich ging auf ihn zu, öffnete ihn und fand was ich gesucht hatte. Das Nagelset. Ich nahm mir eine Nagelschere und die Nagelpfeile. Das war zwar nichts im Gegensatz zu einem Messer, aber besser als nichts. Nach kurzem Überlegen schnappte ich mir noch das Haarspray. Das könnte man doch bestimmt wie ein Pfefferspray einsetzten. Mit meinem notdürftigen Verteidigungskram huschte ich zur Tür.Leise wollte ich sie öffnen, doch so doll ich auch dagegendrückte, sie öffnete sich nicht. Als mir klar wurde, was das bedeutete, fing ich so doll an zu zittern, dass ich mich notgedrungen hinsetzten musste. Die Sachen rutschten mir aus der Hand, was ein lautes Klirren verursachte. Ich hörte wie meiner Mutter Schmerzen zugefügt wurden, aber ich konnte ihr nicht helfen. Auf einmal hörte ich wie meine Mutter aufschrie und der Mann irgendetwas zischte. Alle Vorsicht war mir jetzt egal und ich schlug gegen die Tür. "Mama", schrie ich und schluchzte. "Ronnie", rief meine Mutter mit schmerzerfüllter Stimme, "hau ab von hier." "Nein! Lasst sie in Ruhe ihr Schweine." Ich spürte die Tränen in mir aufsteigen.
Das konnte doch nicht real sein.
Ich versuchte noch einmal die Tür zu öffnen, indem ich mit Anlauf auf sie zurannte und mich dagegen warf. Im Hintergrund hörte ich meine Mutter schreien. Nach zu vielen Versuchen gab ich auf, erschöpft, mit tränenüberströmtem Gesicht und gebrochen.Ich lehnte mich gegen die Tür und erschrak, als ich die Männerstimme auf der anderen Seite der Tür hörte. " Jetzt hör mir mal gut zu, Kleine." Es war fast so, als würde er direkt in mein Ohr sprechen. Mir wurde schlecht.
"Deine Mutter hat nun endlich verstanden, dass es keinen Sinn hat, sich zu wehren.
Du hast nichts gehört, hast du mich verstanden?"
"Was habt ihr mit ihr gemacht?" Meine Stimme strahlte Panik aus und war belegt. Ich räusperte mich. "Ob du mich verstanden hast, fragte ich", knurrte er. Ich versuchte meine Angst herunterzuschlucken. "Ich will erst wissen, ob...", ich musste neu ansetzten: "ob sie noch lebt". Ein leichtes Zittern konnte ich nicht unterdrücken. "Das geht dich nichts an. Wir wissen alles über dich, Ronnie Morales. All deine kleinen Geheimnisse. Dass du bei deinem Vater im Büro herumgeschnüffelt hast und dass Lukas dein bester Freund ist." Er senkte seine Stimme noch ein wenig und flüsterte:" Wir wissen wo er wohnt und dass er Donnerstag Abends immer alleine vom Fußballtraining zurückkommt. Also sag mir, dass du nie irgendjemandem von dem erzählst, was heute passiert ist. Und du machst das hier alles sauber. Sonst wird dein Freund es bereuen." Ich erschauderte und presste meine Lippen fest zusammen. Wie konnte man nur so grausam sein?
"Niemand wird etwas erfahren" flüsterte ich. Die Worte umhüllten mich und gaben mir das Gefühl, in einem Käfig eingeschlossen zu sein.
"Gut. Wir werden jetzt von hier verschwinden und wenn du dich an unsere Regeln hälst, werden wir uns nie wiedersehen!" Ich verkrampfte mich und nickte. Was er natürlich nicht hören konnte. "Verstanden." Meine Stimme hörte sich tonlos und seltsam leer an.
Erst war kurz nichts zu hören, dann vernahm ich ein schleifendes Geräusch und ein Fluchen. Zogen sie meine Mutter etwa den Flur entlang? Ich rutschte an der Badezimmertür herunter, bis ich den Boden erreichte, oder eher gesagt der Boden mich. Ich wollte weinen, aber ich konnte nicht. Seit ich diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte ich mich gefangen. Ich konnte meine Angst und meine Wut mit niemandem teilen. Nur die Trauer um meine Mutter. Und selbst die musste ich vorspielen.Ich weiß im Nachhinein nicht mehr, wie ich es geschafft habe, aufstehen und die Tür aufzumachen. Das Chaos vor mir war schrecklich. Alles war verwüstet und auf dem Boden waren Blutspuren. Mein Körper bewegte sich mechanisch. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich in die Küche ging, um ein Tuch und ein einen Eimer Wasser zu holen. Dann habe ich angefangen das teilweise schon zähflüssige Blut vom Boden zu schrubben.
Aber diese Erinnerung ist seltsam verschwommen, wie ein Traum. Ich erkläre mir das mit meinem Schock und Entsetzten in diesem Moment. Ich schaffte es aber auch, meinem Vater eine "normale" Wohnung zeigen zu können und ihm besorgt sagen zu können, ob er wüsste, warum Mum noch nicht zuhause sei. Dann sah ich den Boden auf mich zukommen und alles um mich herum wurde schwarz.
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Schein
Science Fiction2045. Eine Welt, die immer weiter zerstört wird. Naturkatastrophen. Unruhe unter den Menschen.Geheimnisse, die die Regierung vor den Menschen verbirgt. Und Ronja, ein Mädchen wie jedes andere in diesen Zeiten. Oder vielleicht auch nicht?