Der Nachbar

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Ich öffnete die Tür. Draußen stand niemand, den ich kannte.

"Hallo", begann die Person sofort: "Ich bin gestern in die Wohnung im dritten Stock eingezogen und nicht mehr dazu gekommen, mich bei meinen neuen Nachbarn vorzustellen. Ich habe schon bei den Wohnungen in den unteren Stockwerken geklingelt, aber leider hat mir niemand geöffnet."-"Guten Tag", begrüßte ich meinen neuen Nachbarn überrascht. "Da ich niemandem sonst in diesem Haus begegnet bin, hoffe ich sie können mir ein bisschen was erzählen."

Ich starrte ihn unverwandt an. Warum sollte ich jemandem, von dem ich nicht mal den Namen weiß, etwas erzählen. Und über was sollte ich auch erzählen. In diesem Viertel passierte ja nie etwas Aufregendes.

"Oh, ach ja, ich heiße im Übrigen Michael, Michael Holler. Schön sie kennen zu lernen Frau ähh...", er beugte sich hinunter zu meinem Klingelschild, um den Namen, der darauf stand, zu lesen: "Frau Deléus", er hielt mir die Hand hin, die ich schüttelte.

Als er meinen Namen erwähnte, fiel mir erst wieder ein, dass wir ja immer noch in meiner Tür standen. In diesem Moment musterte ich den Jungen, der vor mir stand genauer:
Er war breitschultrig, muskulös, wahrscheinlich ging er des Öfteren ins Fitnessstudio. Seine markanten Gesichtszüge wurden von braunen Haaren, die unbedingt einmal wieder eine Schere sehen sollten, umrahmt. Definitiv gehörte er zu den Typen, von denen in Romanen oft geschrieben wurde. Aber ich hatte es nicht nötig mir einen Freund zu suchen, ich war auch als Single gut aufgehoben. Außerdem konnte es ja sein, dass er eine Freundin hatte.
Vom Alter her schätzte ich ihn ungefähr ein paar Jahre älter, als ich es war.

Ich trat zur Seite und öffnete die Tür noch weiter. Nachdem er eingetreten war und seine Schuhe von den Füßen gestreift hatte, ging ich in die Küche und er folgte mir.
"Wollen sie einen Kaffee?", fragte ich während ich die Kaffeemaschine einschaltete.
"Ja, gerne."
Ich wendete mich den Schrank zu, holte zwei Tassen heraus und stellte sie in die Kaffeemaschine.

Michael versuchte sofort ein Gespräch anzukurbeln: "Wie lange wohnen sie jetzt schon in diesem Haus?" - "Zwei Monate." - "Für zwei Monate sieht ihre Wohnung aber schon sehr aufgeräumt aus." Ich seuzte: "Ja, nachdem ich hier eingezogen bin, habe ich so schnell wie es ging alles so hergerichtet, dass man hier Besuch empfangen konnte. Meine Freunde hatten mir versprochen, sie würden mich so schnell wie möglich besuchen kommen. Bis jetzt haben sie nicht mal angerufen, geschweige denn eine Nachricht auf WhatsApp geschrieben. Sie sind mein erster Besuch in dieser Wohnung."

"Warum sind sie denn überhaupt hierher gezogen?" - "Ich studiere", gab ich wortkarg als Antwort. Interessiert fragte er weiter nach: "Welches Hauptfach?"
"Psychologie."
"Das hört sich kompliziert an."
"Naja, also man brauch schon ein gutes Menschengefühl, um überhaupt etwas zu verstehen."
Herausfordern blickte er mich an: "Habe sie das denn? Also, das Menschengefühl?"
"Sie können mich gerne duzen. Das scheint ihnen lieber zu sein", meinte ich und hoffte, er verstand, was ich damit sagen wollte. Anscheinend hatte er erkannt, worauf ich hinaus wollte, denn einer seiner Mundwinkel zog sich nach oben.

Ich hörte hinter mir die Kaffeemaschine piepsen. Nachdem ich mich umgedreht, die Tassen genommen und auf den Tisch gestellt hatte, setzte ich mich auf einen Stuhl und nippte an meiner Kaffeetasse. Michael nahm seine Tasse in die Hand und sah etwas verzweifelt aus, als er hinein blickte. Da erst fiel mir auf, dass ich weder Milch noch Zucker auf den Tisch gestellt hatte.
Ich stand auf, öffnete meinen Kühlschrank, nahm die Milchpackung heraus und stellte sie auf den Tisch. Dann begann ich nach dem Zucker zu suchen.
"Tut mir leid, dass ich das vergessen habe. Ich trinke meine Kaffee normalerweise immer schwarz. Ich liebe den bitteren Geschmack", entschuldigte ich mich, nachdem ich den Zuckerspender aus einem der Schränke genommen hatte.

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