2. Kapitel: Die Flucht

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Nach ungefähr 12 Stunden Flug und der Erkenntnis, dass das schöne Auto gar nicht meiner Mutter gehörte, kamen wir endlich an. Ich hatte offensichtlich England verlassen und befand mich im Flughafen in Atlanta. Das Auto hatte Mum einfach in England stehen lassen und allem Anschein nach, hatte sie nicht vor wieder zurück zu fliegen. Es machte mir nichts aus, England verlassen zu müssen. Zwar bin ich in Birmingham geboren und aufgewachsen, aber ich hatte nicht viele Freunde, die ich vermissen würde. Und die, die ich hatte, hatten sich bereits vor meinem Einzug in die Psychiatrie von mir verabschiedet und sich danach nie wieder gemeldet. Psychos waren anscheinend nicht besonders beliebt. Die Schule musste ich ebenfalls abbrechen, was meiner Meinung nach schlimmer war. Trotz der wenigen Freunde, hatte ich mein Schulzeit gemocht. Ich war eine gute Schülerin und nun ein Jahr verpasst zu haben, war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Was mir momentan jedoch viel mehr ausmachte, war, warum wir nicht mehr in England lebten. Mum hatte den ganzen Flug lang keiner meiner Fragen beantwortet und mir stattdessen warnende Blicke zugeworfen, während sie so tat, als würden wir unseren Urlaub in England für immer in Erinnerung behalten, aber endlich zurück nach Hause fliegen. Ich verstand gar nichts und mein Kopf war kurz davor zu explodieren. Ich fragte mich, was Amanda gerade tat, ob sie mich schon erwartete und der Gedanke daran, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehen würde, machte mich traurig. Sie war mein Engel, die Person, der ich am meisten anvertraut hatte. Ich schüttelte mich, um mich auf die wichtigeren Dinge zu konzentrieren. Das war es doch was ich wollte, oder? Raus aus der Psychiatrie, also hätte ich früher oder später Amanda sowieso verlassen müssen. Ich seufzte. Der Flughafen war voll von herumeilenden Menschen, ich konnte Mum nur mit Schwierigkeiten auf Schritt und Tritt folgen. Sie kannte sich anscheinend aus. Meine kleine Tasche kam mir neben den ganzen Koffern von den anderen Mädchen ziemlich armselig vor. Auch mein Selbstwertgefühl sank mit jedem Meter, denn jedes einzelne Mädchen hier in meinem Alter sah umwerfend aus. Ich hatte fürchterliche Angst davor in einen Spiegel zu schauen. Ganz schnell raus hier. Ich beeilte mich, während mein Kopf nach unten geneigt war. Nach gefühlten 30 Minuten kamen wir endlich an der Ausgangstür an. Als ich sie öffnete, schaute ich in eine strahlende Sonne und mir wurde plötzlich ganz warm. Die Sonnenstrahlen kitzelten an meine nackten Oberarme. „Anastasia!", rief meine Mutter, die schon ziemlich weit vorausgelaufen und nach einem Taxi gerufen hatte. Ich rannte zu ihr und stieg ein, während ich den Flughafen von außen betrachtete. Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport. Es war riesengroß. Kein Wunder, dass wir eine gefühlte halbe Ewigkeit gebraucht haben, um hier raus zu kommen. „Brookhaven.", nickte meine Mutter dem Taxifahrer zu und keuchte dabei atemlos. Wir fuhren circa 20 Minuten lang und ich bewunderte die schönen Orte, an denen wir vorbeifuhren, bis wir ankamen. Ich war sehr lange nicht mehr draußen gewesen. Ich war eingesperrt, viel zu lange. Ein leises Lachen gluckste aus mir heraus, als mir klarwurde, dass ich endlich, endlich frei war. Zufrieden streckte ich meinen Kopf aus dem Fenster und der Wind löste mein Haar von dem Zopf und ließ die einzelnen Strähnen flattern.

Wir standen vor einem breiten, zweistöckigen Haus, das ziemlich abgelegen von der Innenstadt und von einigen Bäumen umgeben war. Im Hintergrund des Hauses befand sich ein kleiner Wald, der nur aus Tannen bestand. Das Haus an sich gefiel mir gut. Es war aus weiß lackiertem Holz und besaß in der Mitte eine dunkelblaue Tür. Rechts und links neben dieser Tür hangen jeweils drei Fenster mit ebenfalls dunkelblauen Fensterläden. Der Vorgarten war von einem weißen, tiefen Zaun umrandet und eine weißlackierte Schaukel hang mutterseelenallein vom Dach herunter. Ich musste schlucken. Befand sich da drin etwa meine Familie? Mein großer Bruder? Mein Vater? Warum war er nicht mitgekommen? Einen Moment lang musste ich daran denken, ob sie mich vielleicht schon vergessen haben konnten. Doch ich schüttelte den Kopf. Nein, sie konnten mich nicht vergessen, ich war nur ein Jahr fort und nur 6 Monate hatte ich sie nicht zu Gesicht bekommen. Wie groß konnte da schon eine Veränderung auftauchen? Ich grübelte. Mein Bruder musste jetzt 19 sein. Ich musste wieder schlucken und kratzte mich am Nacken. Wollten sie mich überhaupt? Meine Mutter benutzte Schlüssel, um die Haustür aufzuschließen. Ich sah erstaunt zu ihrem Schlüsselbund, der voll von kleinen und großen Schlüsseln war. Sammelte sie die oder brauchte sie die tatsächlich alle? Ich trat ein. „Willkommen zu Hause, Schatz.", sagte meine Mutter erschöpft und brachte ein kleines Lächeln heraus, während sie mich erwartungsvoll ansah.
„Wo sind sie?", fragte ich kalt.
Das Haus sah gemütlich aus von innen, mit dem Holzboden und dem Kamin, aber es war noch nicht fertig eingebaut. Eine Menge Kisten standen kreuz und quer im Raum und die Tapeten wurden noch nicht erneuert. Ich lauschte, hörte aber kein Geräusch von Leben. Meine Mutter setzte sich auf eine der Kisten, ohne zu bedenken, ob etwas Zerbrechliches darin stecken könnte.
„Er kommt heute Nachmittag. Es ist noch sehr früh, dein Bruder geht schließlich zur Schule."
„Und mein Vater?", fragte ich.
Irgendetwas stimmte nicht, plötzlich überzog eine Gänsehaut meinen Körper, obwohl mir eben noch so warm war. Mein Herz pochte gegen meine Rippen.
„Schatz, hör zu, dein Vater wird nicht wiederkommen."
Sie behielt einen ernsten Gesichtsausdruck, aber sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.
"Es tut mir so Leid."
Ihre Tränen flossen so rasch an ihren Wangen entlang, dass ich erschrak. Ich verstand nicht, warum sie weinte.
„Was? Was tut dir leid?"
Natürlich wusste mein Herz bereits, was sie damit meinte, aber
Ich. Konnte. Es. Nicht. Wahrhaben.
Mir wurde wieder ganz heiß und ich wusste nicht, woher die Hitze kam und ich ...
Ich hatte keine Kraft mehr zu stehen und musste mich auf dem Boden hinknien. Mein Körper fühlte sich so schwer an, alles fühlte sich so ungeheuer schwer an.
„Wann?", fragte ich atemlos und mein Herz raste.
Ich schnappte mehrmals hintereinander nach Luft, als ich anschließend nur noch laut atmen konnte, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, ich konnte alles nur noch verschwommen erkennen. Ich saß stocksteif da und bewegte mich keinen Zentimeter. Denn würde ich mich jetzt auch nur einen Millimeter bewegen, dann war es vorbei. Dann würde ich tatsächlich in Tränen ausbrechen und niemals wieder aufhören können. Ich schrie stattdessen in mich hinein. NEIN, GOTT! NEIN, NEIN, NEIN!
„Vor einer Weile.", antwortete meine Mutter und wischte sich die Tränen weg.
Sie schaute hilflos nach oben, biss sich auf die Unterlippe und kniff sich die Augen zusammen, während sie langsam den Kopf schüttelte, als ob sie meine Gedanken teilte. „WANN?", schrie ich sie nun an.
Eine Wut überkam mich plötzlich. Dann schlug ich meine Hände auf mein Gesicht und ließ meine ganzen Gefühle raus und fing lauthals an zu weinen, zu schreien, zu verleugnen.
„Vor genau 6 Monaten. Hör auf zu weinen, bitte.", sagte sie.
Sie stand auf und nahm mich in dem Arm. Ich fühlte, wie mein Herz wieder in einzelne Stücke zerbrach. Ich hörte es. So wie ein Glas, das krachend auf einem Steinboden fällt. Daddy, Daddy. Mein geliebter Daddy.
Ich war so wütend. So wütend auf mich, auf Mum, auf Gott. Ich war wütend, weil es mir so schlecht ging und wenn ich immer denke, es geht nicht noch schlechter, zeigt mir das Schicksal das Gegenteil. In der Klinik hatte ich jeden Abend zu Gott gebetet, dass es meiner Familie gut gehen solle, auch wenn es mir nicht gut ging, auch wenn ich verlassen wurde. Aber jetzt kam mir das so absurd vor. Ich hatte gebetet für meinen Vater, gebetet, obwohl es ihn nicht mehr gab und ich wusste es nicht. Ich wusste es einfach nicht. Ich schaute in Mum's Gesicht und ihre Tränen glänzten wie klitzekleine Diamanten in ihren Augen. Ich wollte gerade fragen, wie es passiert ist, als die Haustür sich plötzlich öffnete. Herein kam ein großer, schlanker Junge mit dunklem, struwweligem Haar und glänzenden grünen Augen. Meinen grünen Augen. Mein Bruder. „Mike", flüsterte ich.
Er war gewachsen, hatte mehr Muskeln aufgebaut und eine breite Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, als hätte er sie schon immer gehabt. Er sah jetzt aus wie ein Mann, dabei war er erst 17.
„Mikey?"
Er sah mich erst mit großen Augen an und rührte sich nicht vom Fleck, aber ich konnte mich nicht zurückhalten, rannte zu ihm und fiel ihm um den Hals. Ich wusste nicht, was gerade in ihm vorging, denn er erwiderte meine Umarmung nicht. Ich weinte in sein T-Shirt.
„Mike, Vater ist tot! Er ist tot! Wusstest du das?"
Was für eine dumme Frage. Er schnaubte und befreite sich aus meiner Umarmung.
„Ich weiß.", knurrte er nur.
Sein Tonfall war distanziert und kalt. Ich fühlte mich plötzlich schlecht. Mein Bruder und ich haben uns schon immer sehr nahe gestanden. Wir wussten alles voneinander und konnten unsere Gedanken lesen, aber gerade kam er mir wie ein ganz anderer vor. Er lief zu Mum und schaute sie mit funkelnden Augen an. „Jetzt schon?", fragte er und etwas pikste in meinem Herz.
„Es wurde Zeit, Mike. Benimm dich, sie hat gerade erst von dem Tod deines Vaters erfahren."
Sie schaute ihn bei diesen Worten nicht an, so als wäre es ihre Schuld.
„Wir brauchen sie nicht, um uns zu rächen.", fauchte Mike sie an und rann die Treppen hoch.
Ich hörte eine Tür laut zuschlagen.
„Rächen?", fragte ich immer noch schluchzend. Ich fühlte mich wie, als wäre ich im falschen Film.
„Hast du Hunger, Schatz? Lass uns draußen was essen gehen, ich zeige dir die Stadt, ja?"
„Nein!", sagte ich wütend und wischte mir die Tränen weg, als mir wieder in den Sinn kam, wieso ich eigentlich geweint hatte, und war kurz davor wieder in Tränen auszubrechen. „Du und ich, wir bleiben jetzt hier und du erklärst mir was das Ganze hier soll. Und was mit Mike ist. Das ist nämlich nicht der Mike, an dem ich mich erinnere."
„Das können wir aber auch draußen machen, oder?"
Ich seufzte nur, ich hatte weder Kraft noch Zeit für Diskussionen.
„Okay, dann los."

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