1. Kapitel: Herz gegen Verstand

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„Anastasia?"
NEIN, NEIN! ICH BIN HIER! HÖRST DU? LASS IHN BLOß IN RUHE! ICH BIN DOCH HIER!
„Anastasia?"
BITTE! NIMM MICH!
„Du bist spät dran, bitte mach dich fertig, du bist sicher schon hungrig." Die samtweiche Stimme und das zarte Rütteln an meinen Schultern kam von Amanda, die Krankenschwester hier, mit der ich am besten zurechtkam, da sie einer der reinsten Seelen war, die ich je kennen lernen durfte. Sie weckte mich aus meinem Albtraum. Halb wach öffnete ich meine Augen, wirbelte erst mit den Armen und stützte mich dann an die Bettkante, während ich nach Luft schnappen musste. Ich sah direkt in Amy's lächelndes, freundliches Gesicht. Sie rüttelte immer noch an mir und ich beruhigte mich langsam. Vorsichtshalber schaute ich trotzdem einmal durch das ganze Zimmer, nicht nur um auf Nummer Sicher zu gehen, sondern auch um meinen Verstand davon zu überzeugen, dass es bloß ein Albtraum war. Es ist bloß ein Traum gewesen. „Morgen, Am. Es tut mir Leid. Wie spät ist es denn?", fragte ich mit schmollenden Lippen. Sie nahm ihre Hände von meiner Schulter und legte sie stattdessen ruhig auf meine Hände, die schweißnass waren, aber das war sie gewohnt.
„Halb zehn", sie lächelte immer noch.
„Hast du wieder schlecht geschlafen? Ich dachte, das hätte sich erledigt." Sie runzelte die Stirn und machte einen enttäuschten Eindruck. „Es tut mir Leid.", flüsterte ich wieder und war wütend. Wütend auf mich selbst. Die Ärzte in der Klinik hatten schon mit genug Problemfällen zu kämpfen, wiederkehrende Probleme waren da das Letzte wofür sie Zeit hatten, vor allem welche, bei denen sie die Hoffnung schon längst verloren hatten. Ich bemerkte an ihren Gesichtern, wie hilflos sie sich in meinem Fall fühlten.
„Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Wir kriegen das wieder hin, okay? Manchmal braucht man einfach mehrere Anläufe. Am besten machst du dich jetzt fertig und frühstückst und wenn du möchtest, können wir danach über deinen Traum reden. Ist es jetzt ein anderer?", fragte sie voller Hoffnung und Geduld in ihren Augen.
Am liebsten würde ich lügen, aber das würde sie sofort merken.
„Nein. Nein, es ist wieder derselbe."

Ich stand vor dem Spiegel im Bad und betrachtete mein gewaschenes Gesicht. Meine Augen waren rot und geschwollen. Warum? Ich legte meine Hand auf die Stirn und schluchzte. Es bereitete mir heftige Kopfschmerzen. Warum hat es wieder begonnen? Ich war doch kurz davor diese Träume zu vergessen, kurz davor mich wie ein normaler Mensch zu fühlen, warum sind sie zurückgekehrt? Ich wusste, ich würde niemals eine Antwort auf diese Frage bekommen. Ich hasste es, keine Kontrolle über meinen Körper, über mein Gedächtnis haben zu können. Ich hasste es, mir immer wieder einreden zu müssen, dass es doch bloß Träume seien, denn das waren sie nicht. Diese Träume haben mein gesamtes Leben von mir genommen, mich von allem getrennt, was mir lieb war, inklusive mich selbst. Ich könnte auch einfach tot sein, es würde keinen Unterschied machen. Ich nahm meine Hand wieder von meiner Stirn und schaute mir die Narbe auf meinem Handgelenk an, die ich mir selbst zugelegt hatte, als ich vergeblich versuchte, mir mein Leben zu nehmen. Sie war endlich ein wenig verblasst, aber immer noch auffällig, wenn man genau hinsieht. Ich glaube, die meisten Menschen in der Psychiatrie haben Selbstmordgedanken. Das gehört einfach dazu. Ich blickte flüchtig auf den Kalender, nachdem ich meine Zähne geputzt hatte - Mittwoch. Heute war wieder Besuchstag. Schnell rannte ich zurück in mein Zimmer, das mir allein gehörte und worüber ich unglaublich dankbar war und zog mir eine dunkle Jeans und ein weißes T-Shirt an, band meine langen, dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und nahm einen letzten Blick in den Spiegel, den ich hinter meiner Tür aufgehängt hatte. Ich schaute mich gerne an. Nicht, dass es mir wichtig wäre, wie ich aussah, ich fand es einfach interessant, mich selbst zu betrachten und mir sicher sein zu können, dass ich immer noch ich selbst war und nicht zu irgendeiner Verrückten mutiert war, wovon es hier viele gab. Es gab mir auf eine merkwürdige Art ein Gefühl von Hoffnung. Als ich die Tür öffnete, wurde ich fast umgerannt von einer Frau, die ihr Kind hinter sich her zog und auf es ein schrie, während das kleine Kind brüllte und weinte. Mein Herz zerbrach sofort in Stücke und mich überkam eine Flut von Mitleid, da mir dieser Anblick nur als zu gut bekannt war. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ein weiterer Psychopath. In meinen Augen, ein einfach nur missverstandenes, kleines Kind. Ich beeilte mich zum kleinen Aufenthaltsraum, um das Geschrei nicht mehr mit anhören zu müssen und sah mich um. Es war unerwartet voll, was wahrscheinlich daran lag, dass die Familien der Kinder da waren und sie Freunde und Angehörige mitnahmen, weil sie selbst keine Gesprächsthemen mehr auf Lager hatten. Sie hatten schon die Hoffnung in ihren Liebsten verloren und baten Menschen, die das Kind nie verstehen würden, um Hilfe. Wie ungeduldig und herzlos. Es machte mich wütend. Mir war bewusst, dass jeder sein eigenes Leben auf die Reihe kriegen musste und selbst schon genug Probleme hatte, aber ein Kind monatelang in eine Psychiatrie sitzen zu lassen und ein Teil ihrer Kindheit wegzunehmen, während es keine Liebe bekommt und sich von Tag zu Tag noch schlechter, noch einsamer fühlt - das ist nicht menschlich. Das ist reiner Egoismus und pure Grausamkeit. So wie der Rest dieser Welt auch. Ich hatte die Hoffnung in der Menschheit schon lange verloren. Die Menschen, die hier erst einmal eingewiesen wurden, würden es schwer wieder raus schaffen. Denn kein Arzt gab sich wirklich Mühe, Patienten wieder zu heilen, es ging ihnen lediglich um das Geld. Und wenn man nicht einmal Ärzten vertrauen kann, wem dann? Ich seufzte und schaute weiterhin traurig in die leeren Gesichter der Kinder. Ich lief zur Theke, während mein Blick nach etwas suchte. Nach etwas suchte, worüber ich mir bewusst war, es nicht finden zu werden. Meine Familie. Auch wenn ich wusste, dass niemand mich besuchen würde, mein Herz wollte es nie wahrhaben. Jeden Mittwoch wachte ich voller Hoffnung auf und jeden Mittwoch weinte ich mich wieder in den Schlaf. Es war nicht so, dass ich keine Familie hatte. Nein, ganz im Gegenteil  - Vater, Mutter, mein älterer Bruder, alle existierten. Doch manchmal wünschte ich mir das Gegenteil, denn der Schmerz würde dann wahrscheinlich nicht so tief sitzen. Seit einem halben Jahr schon hörte ich nichts mehr von ihnen. Seit einem halben Jahr besuchte mich keiner mehr, meldete sich keiner mehr. Als ich nach 3 Monaten verwirrt zu Hause angerufen hatte, nahm meine Mutter ab und meinte, dass es ihr leid tun würde und dass sie mich fürs Erste nicht besuchen könne, da es momentan nicht besonders gut lief. Doch heute noch frage ich mich, ob es bei ihnen wirklich so schlecht läuft, dass sie mich nicht ein einziges Mal in 6 Monaten besuchen konnten? Dass meine eigene Mutter mir nicht sagen kann, was los ist? Das brachte mich immer wieder zu so vielen Emotionen. Es machte mich unglaublich wütend, ich fühlte mich schrecklich einsam und das Gefühl der Einsamkeit, ist das Schrecklichste, was ein Mensch empfinden kann. Ich nahm mein Tablett - heute durfte meine Etage ausnahmsweise Mal im Aufenthaltsraum die Mahlzeiten zu sich nehmen - und suchte nach einem freien Tisch, fand jedoch keins. Ich würde die gespielte Glückseligkeit, die Lügen und die falschen Versprechen der Familien sowieso nicht lange aushalten. Ich stapfte zur Tür, Richtung Vorgarten, welches mit hohen Wänden umgeben war und ließ mich auf eine freie Bank nieder.
„Hallo, Herzchen!", hörte ich Amanda rufen. Ich blickte auf und setzte gespielt ein Lächeln auf, bevor sie mich noch was fragte, worauf ich keine anständige Antwort haben würde.
„Amy, hi."
Sie war immer für mich da, wenn ich jemanden brauchte und ich wünschte, ich könnte mich ihr gegenüber dankbarer zeigen, doch ich hatte komplett vergessen wie. Ich hatte komplett vergessen, wie man sich ordentlich mit einem Menschen unterhält.
„Darf ich mich zu dir gesellen?"
„Natürlich. Ich erwarte schließlich niemanden." Was für eine Lüge. „Dankeschön.", sagte Amanda, strich sich eine springende Locke hinters Ohr und setzte sich. Ich fragte mich, wie es möglich war, dass sie mit allen so geduldig umgehen konnte.
„Wie geht es dir?", fragte sie und ihre Stimme klang plötzlich ernster. Man konnte sie nicht anlügen, deswegen versuchte ich es erst gar nicht.
„Es geht mir schlecht, Am. Das weißt du doch, es ist Mittwoch.", sagte ich und hoffte, dass ich mich nicht zu unhöflich anhörte. Sie lächelte und sah mir tief in die Augen.
„Ich habe eine Überraschung für dich, Kleines."
Sie stand auf und ging einen Schritt zur Seite. Ich blickte verwirrt zu ihr auf, als ich plötzlich eine vertraute Silhouette neben ihr entdeckte. Die Sonne schien direkt auf die Gestalt und ich musste ein paar Mal blinzeln. Ich erkannte sofort, um wen es sich handelte und verschluckte mich an meinen Bissen. Während ich hustete, schossen mir Tränen in die Augen. Meine Mutter. Meine Mutter, sie war hier.
„Ich lasse euch für 10 Minuten allein, wäre das in Ordnung?", erkundigte sich Amanda, nahm die Hände aufgeregt zusammen und setzte sich auf eine Bank ein paar Meter entfernt von uns. „Okay.", piepste ich atemlos, obwohl sie mich sowieso nicht mehr hören konnte. Ich spürte, wie ich ganz blass wurde und mein Herz raste. Ich schaute nach Amanda und fand es instinktiv falsch, sie laufen zu lassen. Meine Mutter setzte sich und ich starrte sie an, während ich meine Hände zu Fäusten ballte. „Hallo, Anastasia.", sagte sie ruhig.
Sie hatte sich kaum verändert, sie sah sogar besser aus als vor einem halben Jahr. Das durfte doch nicht wahr sein.
„Was. Tust. Du. Denn. Hier.", brachte zitternd und halb flüsternd heraus. Ich war schockiert, aber die Sehnsucht überkam mich und ich fühlte, wie sich alles um mich herum plötzlich drehte.
„Ich habe endlich die Gelegenheit gefunden, dich zu besuchen!", lachte sie und warf ihr hellbraunes Haar nach hinten. Dann verschränkte sie ihre Hände auf dem Tisch, als sie direkt in meine weit aufgerissene Augen sah und schaute mich seriöser an. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gehört hatte. 6 Monate! 6 Monate lang war ich eingesperrt, musste Tag und Nacht leiden aus Angst, ich würde für immer hier verweilen, während sie offensichtlich ihr Leben genoss?!
„DU SPINNST DOCH TOTAL!", schrie ich sie an und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Meine Mutter sprang auf und sah mich mit einem Blick an, als wäre meine Reaktion ganz und gar unerwartet. Was hatte sie sich denn gedacht? Dass ich zurücklächelte und ihr von meinem Irrenanstalt Alltag erzählte, während wir fröhlich beisammen saßen?
„VERSCHWINDE! ICH HASSE DICH, OKAY? ES IST ZU SPÄT. Es ist zu spät für diese Art von Zusammenkommen."
Ich musste schlucken, mir fehlten die Worte. All der Schmerz, den ich versucht hatte zu verdrängen, kam auf einmal hoch und ich hatte das Gefühl meine Körper würde explodieren, als plötzlich Amanda angerannt kam und mich festhielt.
„Ssssh! Ssssh!", sie nahm mich in den Arm und drückte mich fest, während sie mein Haar streichelte.
„Mrs. Martins, bitte warten sie kurz drinnen. Sie braucht etwas Zeit."
Ich hörte, wie meine Mutter mit klackernden Schuhen weg lief, fast rannte und ließ all meine Emotionen frei. Vor diesem Moment hatte ich mich gefürchtet. Ich wollte meine Gefühle nicht vor diesen Leuten zeigen, wollte nicht beginnen zu weinen, aus Angst, ich könnte nie wieder aufhören. Mein Herz klopfte immer noch rasend gegen meine Rippen und die Benommenheit ließ nicht nach.
"Beruhige dich, bitte."
Ich wollte sterben. Wieso halten die Menschen einen auf, wenn man einfach nur für immer einschlafen möchte? Wenn man es doch selbst so sehr möchte, warum wird man dann immer wieder gezwungen aufzuwachen und in die bittere Realität zurückzukehren und immer wieder zu leiden. Immer wieder zu leiden. Allein.
„Ich will sie nicht sehen. Bitte sag ihr, dass sie gehen soll, bitte, Amanda, ich kann das nicht.", schluchzte ich in ihren hellblauen Kasack hinein.
„Sie muss dir aber unbedingt etwas sagen, Liebes. Vielleicht beantwortet es ja einige deiner Fragen. Bist du denn nicht neugierig? Willst du keine Antworten? Beruhige dich und versuch es dann nochmal, sonst wirst du es bereuen, Anna. Ich weiß, dass du wütend bist, aber vielleicht kann deine Mutter dir ihre Abwesenheit erklären. Gib ihr wenigstens eine Chance."
Ich wusste innerlich, dass ich nichts sehnlicher wollte, als endlich Antworten zu bekommen. „Aber ich kann nicht, Amanda.", wiederholte ich, befreite mich aber trotzdem aus ihrer Umarmung.
„Und wenn ich mitkomme?", biet sie an und legte ihre Hände auf meine Schulter, so wie sie es immer tat, wenn sie mich von etwas überzeugen wollte.
„Na gut, eine Chance.", antwortete ich unsicher. Ich wusste, dass Amanda Recht hatte. Sobald meine Mutter weg war, würde ich meine Aktion bereuen. Ich musste es wenigstens versuchen, für mich selbst.

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