"Anastasia, du bist gerade mit deinem Kopf heftig gegen die Sofakante gestoßen und hast nicht einmal mit der Wimper gezuckt."
Meine Mutter schaute mich ungläubig an, während ich mich wieder aufrappelte - und mir mittlerweile sicher war, dass das hier immer noch die Realität war. War es tatsächlich so schlimm? Ich hatte die Sekunden während des Aufpralles gar nicht richtig mitbekommen. "Adrenalin.", sagte ich daraufhin beschwichtigend.
Meine Mutter runzelte die Stirn und widmete sich dann wieder meinem Bruder zu.
"Alles in Ordnung?", fragte sie und traute sich immer noch nicht ihm zu nahe zu kommen. "Mein Kopf schmerzt schon seit ihrer Anwesenheit. Ich kann ihre Nähe so mit Sicherheit nicht weiter aushalten."
Die Worte meines Bruders verletzten mich wie auf Knopfdruck und ich hätte mich in diesem Moment am liebsten wie ein Igel in mich selbst eingekrochen. Deshalb, redete mein Verstand mir ein. Deshalb haben sie dich all die Zelt vor sich ferngehalten. Du tust ihnen Weh. "Warum? Wie kann das passieren?", fragte ich. Ich bereute es, mich vor einigen Sekunden noch über sie lustig gemacht zu haben. Worte konnten vielleicht lügen, aber die Gesichtsausdrücke meiner Familie zeigten mir deutlich, dass die reinste Wahrheit in der Luft liegt. Was auch immer diese Wahrheit beinhaltete, sie ist abscheulich.
"Es ist deine Abwehrreaktion. Auf diese Weise verteidigt sich dein Verstand instinktiv vor vermeintlichen Feinden, die in deinen Kopf dringen wollen.", antwortete meine Mutter.
"Aber er ist mein Bruder!"
"Der Grad der Verwandtschaft ist irrelevant. Die einzigen Wesen, die keinen Schmerz in deiner Gegenwart fühlen, sind diejenigen, denen du komplett vertraust." Dabei deutete sie auf sich selbst. Ich hätte mir nicht einmal erträumen lassen können, dass ich meinem eigenen Bruder nicht vertraue. Ich dachte immer, Vertrauen sei in einer Familie selbstverständlich. Aber offensichtlich hatte sich seit meiner Abwesenheit vieles an dieser Familie und auch an mir selbst verändert. Meine Mutter behielt Recht. Ich konnte in dem letzten Jahr niemandem vertrauen, nicht einmal Amanda erzählte ich alles. Ich hatte mich verschlossen, aus Angst, jegliche Art von Gefühlen würden mich innerlich zerfressen. Auch wenn ich damals meinem Bruder vertraut hatte, die Zeiten haben sich verändert. Mike hatte sich inzwischen an die Tür gelehnt, bereit zu fliehen, sobald mein Verstand ihm wieder Schmerzen zufügte.
"Es geschieht durch eine durchsichtige Aura, die dein Verstand wahrnimmt und dementsprechend die passende Reaktion wieder ausströmt. Nur Menschen mit überdurchschnittlicher Menge an Bewusstsein des eigenen Verstandes haben die Kraft, so etwas in die Tat umzusetzen. Es ist somit deine Fähigkeit.", wiederholte Mum die Worte meines Bruders.
"Das muss nicht bedeuten, dass du ihm nicht doch irgendwann vertrauen kannst. Vertrauen ist ausbaufähig. Und ich möchte, dass ihr beide daran arbeitet, denn wir können nur zusammen stark sein." Mike und ich schauten uns reflexartig bei ihren Worten an.
"Wann hat sich alles verändert?", fragte ich und zog meine Knie an die Brust.
"Es ist immer da gewesen, Anastasia. Du hattest von Kind auf immer sehr lebhafte Träume. So lebhaft, dass du oft den Zugang zur Realität komplett verloren hattest. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sich so stark weiterentwickelt, dass unsere Feinde dich aufspüren können."
Ich erinnerte mich. Das war der Grund, warum ich kaum Kindheitserinnerungen hatte, den größten Teil meiner Kindheit verbrachte ich in meiner eigenen Traumwelt. Dass mir das jemals zu einem Hindernis werden könnte, war ich mir nie bewusst. Und dass diese Tatsache meinen Vater umgebracht hatte, war umso absurder.
"Diese Art von Träumerinnen werden seit Jahrzehnten verfolgt. Die Kraft, die du besitzt, ist mächtiger, als du überhaupt glauben kannst und von ungeheurer Bedeutung für unsere Feinde.", fuhr Mum fort, "In dem Familienstammbaum deines Vaters liegt diese Genmutation vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei jemanden auftreten kann, wird zwar immer geringer, doch es ist nicht auszuschließen. In diesem Jahrzehnt hat es dich getroffen und unsere Feinde wollen dich mehr denn je. Es gibt unheimlich viele Mythen in alten Büchern über sie, wie sie die Kraft aus Träumerinnen für sich rausholen können und vielseitig anwenden können. Deine Fähigkeit ist teuer, An. Sie würden dich und die Menschen, die du liebst gnadenlos dafür opfern."
"Wer sind sie?", fragte ich und war überrascht, dass ich nicht schon längst aus dem Fenster gesprungen war.
"Das wissen wir nicht und das ist unsere größte Schwäche und ihr enormer Vorteil gegenüber uns. Alles was wir über sie wissen, ist, dass es sie gibt, dass sie skrupellos sind und dass sie nicht aufgeben werden, bis sie dich haben. Das ist schon immer ihre Aufgabe gewesen, die Jagd nach Träumerinnen."
Mein Kopf wog mit jedem Satz meiner Mutter schwerer, doch dennoch fühlte ich ein Gefühl der Leichtigkeit, da ich endlich Gewissheit hatte. Auch wenn sich bei dieser Gewissheit wortwörtlich um Leben und Tod handelte, machte der größte Teil meines Lebens plötzlich einen Sinn.
"Was ist mit euch? Wie geht ihr vor?", hakte ich weiter neugierig nach.
"Als wir die ersten, ernsten Anzeichen an dir bemerkten, wusste dein Vater, dass du bei uns nicht länger sicher bist. Wir haben uns entschieden, dich in die Psychiatrie einzuweisen, da dort die meisten, extremen Auren herrschen und somit unsere Feinde nicht auf die Idee kämen, dort nach dir zu suchen. Wir mussten den Kontakt zu dir abbrechen, als sie deinen Vater gefunden und ermordet haben. Es war ihr erstes Signal, ihr erster Schachzug gegen uns. Denn unser Weg führt zu dir, das wissen sie und richten sich dementsprechend auch danach. Dein Bruder und ich waren plötzlich allein und mussten jeden Monat umziehen, damit sie uns nicht aufspürten. Wir haben gelernt, wie wir uns verteidigen und gelernt, richtig zu kämpfen. Es ist zu unserer Hauptaufgabe geworden, denn wir haben nicht die Kräfte, die du hast." Meine Mutter hielt kurz inne.
"Eines Abends war ich auf dem Weg nach Hause und fand unsere Wohnung in Brand gesetzt auf. Das war ihr zweiter Schachzug. Sie waren uns unglaublich nah und ich habe entschlossen, Europa zu verlassen. Hier sollten wir für eine Zeit lang sicher sein und deswegen habe ich mich endlich dazu entschieden, dich mit uns mitzunehmen. Dein Bruder und ich werden es nicht alleine schaffen, wir brauchen dich. Wir brauchen dich, um diesem scheinbar endlosen Kampf ein Ende zu setzen."
Meine Mutter sah mich voller Hoffnung in den Augen an und ich musste schlucken.Wenn ich so viel Macht habe, warum fühle ich mich dann so machtlos?
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My Lifesaver
Fantasy"My Lifesaver" erzählt von einem Mädchen namens Anastasia, die ihren Alltag in der Psychiatrie verbringen muss. Der Grund sind ihre Albträume, die immer anders beginnen, doch alle denselben Schluss haben und über die sie keine Kontrolle hat: Sie sti...