Zitternd blickte Robert Maryweather hinab auf seine Armbanduhr, hinter ihm der dichte New Yorker Straßenverkehr, vor ihm ein tiefer Abgrund, von dem ihn nichts trennte außer einer hüfthohen Brüstung.
23:58 Uhr.
Noch zwei Minuten dann war es soweit. Roberts Assistent hatte ihn erst gestern an seinen Hochzeitstag erinnert. Vor ziemlich genau zehn Jahren, hatte er seine Highschool Liebe geheiratet. Er war damals erst 18 gewesen, genau wie sein Auserwählte Paula.
Robert konnte sich noch an die exakten Worte seiner Mutter erinnern, als sie von den Plänen seines Sohns erfuhr. Erst wollte sie wissen ob er sie geschwängert hätte und sie sich deshalb so überstürzt in eine Ehe warfen. Als er verneinte, erklärte sie ihn für verrückt, meinte er würde sich seine blühende Zukunft ruinieren und die von Paula auch. Ihr Rat war zu warten, bis sie beide die Uni abgeschlossen, einen vernünftigen Job und ein Haus hatten, schließlich wäre dann immer noch Zeit.
Aber Robert und Paula wollten nicht warten. Sie waren jung, voller Zuversicht und unendlich verliebt, also brannten sie nach Las Vegas durch, heirateten dort und erzählten ihren Eltern erst davon, als die Sache schon beschlossen war.
Tatsächlich war ihre Liebe nie ein Problem während sie studierten. Zwar lagen ihre Unis weit auseinander, aber ihre Beziehung war stark genug um diese Distanz zu überwinden. Robert wurde Anwalt, Paula Neurobiologin.
Doch dann kam er.
George, der Architekt. Ursprünglich war er angeheuert worden, um das Haus zu entwerfen, in dem Robert und Paula ihre zukünftigen Kinder großziehen wollten.
In den Wochen nachdem George sich in den Träumen und Zielen von dem glücklichen Eherpaar breitgemacht hatte, änderte sich so einiges.
Paula blieb oft lange weg mit der Ausrede sie würde Überstunden im Labor machen. Wenn sie dann nach Hause kam, ging sie gleich ins Bett und redete kaum noch mit Robert, als könne sie nicht ertragen seine Stimme zu hören.
Tief im inneren wusste Robert wohl, dass etwas nicht stimmte und sie irgendwas vor ihm verbarg. Er wollte es nicht wahr haben. Aber das ist eben die Sache mit der Wahrheit. Wenn man sie ignoriert, trifft sie einen umso härter.
Eines Tages kam Robert dann nach Hause, unwissend und mit einem Geschenk für seine Frau im Gepäck. Es war ein Ring, von dem Robert wusste das Paula ihn mögen würde. Er hatte alles was sie mochte. Gold, Glitzer und trotzdem Klasse.
Und nun stand Robert dort oben auf der Brücke und dieser Ring lag auf seiner Handfläche. Das Funkeln der geschliffenen Steine darauf, ließ diese alten Bilder in Roberts Kopf wieder Revue passieren.
Die fremden Paar Schuhe im Flur. Die schnulzige Musik, die aus dem ersten Stock des Hauses drang. Seine Frau, im Bett mit diesem dümmlich grinsenden Architekten. Ihre erschrockenen Blicke, als Robert ins Schlafzimmer geplatzt war.
Wütend ballte Robert die Finger über dem teuren Ring zusammen. Das Material bohrte sich unangenehm in seine Handfläche, aber er hörte nicht auf. Er genoss den Schmerz, wie er sich auf der Haut anfühlte und wie er ihn für einen kurzen Moment, an etwas anderes als an Paula denken ließ.
Als Robert seine Faust wieder öffnete, hatte der Ring einen runden Abdruck hinterlassen.23:59 Uhr.
'Es tut mir Leid Robert, ich wollte nicht dass du es so erfährst', hatte Paula gesagt, als ihr Ehemann die Tür zu dem Schlafzimmer öffnete, in dem er mit ihr immer gelegen hatte. Es hatte sich wirklich so angehört als hätte Paula diese Worte mit Bedauern gesprochen. Beinahe so als hätte sie nie gewollt das es so kommt, als wäre es ein Unfall gewesen.
Aber sowas passierte nicht zufällig.
Roberts Blick war fest auf das Schmuckstück in seiner Hand gerichtet. Er schien das Symbol für alles zu sein, was in den letzten Monaten falsch gelaufen war. Das Traumhaus, in dem später mal ihre gemeinsamen Kinder aufwachsen sollten, war jetzt nur noch eine Last für ihn. Paula und ihr neuer Freund George hatten es ihm überlassen, auch wenn er es auch nicht haben wollte. Es war nach wie vor noch nicht fertig eingerichtet und zu den wenigen, bereits angelieferten Möbeln, gehörte das Doppelbett in dem Paula ihn betrogen hatte.
Obwohl, das war gelogen. Es existierte nicht mehr, denn vor ein paar Tagen, als Robert nach einer Nacht in der Bar, völlig betrunken in das leerstehende Haus gewankt war, hatte ihn der Anblick des Betts so verärgert, dass er es in einem Wutanfall zertrümmert und die Einzelteile im Garten verbrannt hatte. Die Nachbarn hatten ihm dafür die Polizei auf den Hals gehetzt, aber das war Robert egal. Ohne Paula war ihm alles egal. Seit sie weg fand er an nichts mehr Freude. Seine Arbeit war unerträglich, seine Freunde, die versuchten ihn aufzumuntern nervten, seine Eltern lagen ihm ständig in den Ohren damit, dass sie doch Recht gehabt hatten und er selbst fühlte sich als würden all diese Dinge sich zu einer Last stapeln, die er nicht mehr stark genug war zu tragen.
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Robert schluckte, ließ den Ring fallen und beobachtete seinen Fall, bis das Schmuckstück zu klein geworden war um es zu sehen. Es versank in den Fluten des dunklen Flusses und sank auf dessen Grund.
Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er um diese Zeit mit Paula auf ihre Liebe angestoßen, dann hatten sie gemeinsam gegessen und den Rest der Nacht miteinander geredet. Sie waren immer in der Lage gewesen über alles zu reden ... bis sie es nicht mehr waren.
Heute Morgen waren ihm dann die Scheidungspapiere zugestellt worden. Das war der letzte Strohhalm gewesen. Alles was Robert noch hatte am Leben festhalten lassen und jetzt hatte er gar nichts mehr und blickte auf seinen nahenden Untergang hinab.
Er fragte sich ob Paula mit der Nachricht über seinen Tod zurecht kommen würde. Ob sie sich als schuldige sah. Robert wollte nicht dass sie die Schuld bei sich suchte, schließlich war es seine Entscheidung und nicht ihre.
Ob seine Freunde um ihn trauern würden? Und was war mit seinen Eltern und seiner Kanzlei? Schon länger hatte er versucht sich einzureden, dass wenigstens einer ihn vermissen würde, das er irgendwo einen Platz hatte. Aber da war immer diese leise Stimme in seinem Kopf, die ihm das Gegenteil einflüsterte. Wenn er tot war, dann würden seine Eltern traurig sein, sie würden weinen, aber darüber hinweg kommen, das selbe mit seinen Freunden. Die Kanzlei würde an seinen Partner gehen und da er keine Kinder hatte, ginge sein Vermögen an Paula, denn er hatte es noch nicht übers Herz gebracht die Scheidungspapiere zu unterzeichnen.
Robert schluckte und sog die kalte Großstadtluft ein. Sie brannte in seinen Lungen. Seine Finger, die sich an die eisige Brüstung der Brücke klammerten waren schon taub und seine Knie zitterten.
Als er losließ und nach vorne kippte, spürte er wie die Schwerkraft ihn in die Tiefe zog und dann war es soweit. Es gab kein zurück mehr.
Wenn er nur gewusst hätte, dass sein Fall von jemandem sorgenvoll beobachtet worden war. Nein, es war nicht Paula, die filmreif im letzten Moment aufgetaucht war und auch kein Autofahrer der auf seinem nach Hause Weg über die Brücke den Mann hinter der Absperrung entdeckt hatte.
Nichts davon geschah, die Irdischen schenkten Robert keine Beachtung.
Es war ein Engel und zwar der, der Robert das Leben geschenkt hatte. Er konnte Roberts beschleunigten Herzschlag und die Flut an Emotionen die jenen Mann umgab spüren. Viel zu viele Selbstmorde hatte er mitansehen müssen, doch er war der Engel der Geburt, dass heißt es war seine Pflicht jeden Menschen vom Ersten bis zum letzten Atemszug zu begleiten. Normalerweise war er aber im letzten Augenblick nicht alleine und dass er es gerade doch war, bereitete ihm Sorgen.
Wo war der Todesengel? Wie sollte er den stummen Herzschlag an ebenden übergeben? Wie würde Robert vom Tod empfangen werden?
Der Engel der Geburt hatte keine Antwort darauf und so konnte er nur dabei zusehen, wie Robert auf dem harten Wasser aufschlug, wie die dunklen Fluten ihn umschlossen, er nach Luft rang, sein Herz aber stetig weiter schlug und er sich irgendwann zurück an die Oberfläche kämpfte.
Robert war verwundert. Der Aufschlag hätte ihn töten sollen. Ertrinken wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Aber hier war er nun. Unversehrt und verwirrt, mit einem Engel über ihm, den er nicht sehen konnte, der sich aber in diesem Moment fragte, wie eine Welt ohne den Tod wohl aussehen würde.
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Death Race
Teen FictionIm Himmel gibt es 7 Engel und jeder von ihnen hat seine Aufgabe. Geburt, Liebe, Hass, Hoffnung, Glück, Trauer und Tod. Als der Todesengel verschwindet, ist es nun an den anderen sechs seinen Nachfolger unter den Menschen zu finden. Jeder erwählt dre...