Die endliche Geschichte

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Nachts nachzudenken, das ist eine so wundervolle Sache.
Man ist ganz alleine, es ist ruhig, niemand kann einen hören. Da ist nur man selbst, alleine mit seinen Gedanken. Gibt es etwas schöneres auf dieser Welt?

"An!"

Nein, ich reagiere nicht. Ich werde diese Stimme einfach ignorieren. An gibt es nicht mehr, An ist schon vor so langer Zeit gestorben. Das einzige, was von An noch existiert, ist eine Hülle. Etwas materielles, was an einem Menschen letztendlich so unsagbar wertlos ist, wenn der Geist gestorben ist.

Mein Körper brennt. Ich habe höllische Schmerzen, wieder dringt der Klang meines Namen an meine Ohren. Wie durch Watte, so fühlt sich in letzter Zeit alles an, jede Empfindung. Nur der Schmerz nicht. Der Schmerz ist immer da, allgegenwärtig. Immerzu spüre ich ihn, fast so, als würde all die Energie der anderen Empfindungen sich in diesem Gefühl vereinen.

"An!"

Da, schon wieder. Dieses Mal wird der Ruf von einem Schluchzen begleitet. Ich kenne die Stimme, doch ich kann sie nicht erkennen.
Wie gerne würde ich jetzt meine Augen öffnen, doch das kann ich nicht. Dazu ist der Schmerz zu groß. Dazu ist Ans Körper zu schwach.

Ob meine Mutter wohl an mich denkt? Vielleicht ist sie es auch, die da gerade meinen Namen wiederholt, immer und immer wieder, in tiefer Verzweiflung.

Das Brennen lässt nach, nur ein wenig, aber ich kann bemerken, wie das Feuer langsam erlischt. Es tut gut. Dennoch fühlt es sich falsch an, irgendwie. Es ist schon so lange ein Teil meines Körpers, ein Teil von An.

Manchmal, da frage ich mich, ob ich in meinem Leben hätte mehr erreichen können, wenn ich gewusst hätte, dass es so früh zu Ende geht. Hätte ich dann die Chancen anders genutzt, hätte ich mehr erlebt und mehr zugelassen? Oder hätte ich Angst gehabt?
Ich weiß es nicht.

Ich habe so oft darüber nachgedacht, wie es wohl sein mag, dem Tod in die alles an sich reißenden Augen zu blicken. Ich habe immer gedacht, ich wüsste, wie das sein würde. Aber ich habe auch immer gedacht, der Tag würde nicht so schnell Gegenwart geworden sein.

Jetzt ist es zu spät, An gibt es nicht mehr.

Meine Freunde haben immer gesagt, ich soll jeden Tag so leben, als wäre es mein Letzter. Das haben sie immerzu gesagt, denn ich bin immerzu schüchtern und zögerlich gewesen.

Doch hätte ich wirklich jeden Tag leben sollen wie meinen Letzten? Hätte ich jeden Tag alleine in einem Bett liegen und eine weiße Wand anstarren sollen? Hätte ich wirklich jeden Tag ein bisschen mehr von An loslassen sollen?
Hätten meine Freunde das auch gesagt, hätten sie gewusst, wie mein letzter Tag sich gestalten würde?
Ich frage mich, was sie woll stattdessen gesagt hätten, wenn sie sich darüber im Klaren gewesen wären, dass ich irgendwann mit Infusionen zu meiner Linken und einem Tubus in einem Bett liegen würde. Hätten sie versucht, mich aufzumuntern?

Vielleicht hätten sie dann gesagt, sie könnten verstehen, wie ich mich fühle. Manchmal sagen Leute so etwas, um einen aufzumuntern. Aber das sollten sie nicht sagen, sie sollten nicht lügen.
Das hat meine Mutter auch immer gesagt, dass man nicht Lügen soll.

"An!"

Und dann hat sie gesagt, sie würde schon klar kommen, ohne mich.

"An!"

Nunja, Menschen halten sich eben nicht immer an ihre Prinzipien.

Das Brennen verebbt immer mehr. Ich habe Angst. Ich habe so unsagbare, schreckliche Angst. Jede Faser meines Körpers kann dieses Gefühl spüren, fast so, als wolle die Angst den Schmerz verdrängen, ihn ersetzen.
Niemand mag Schmerzen, niemand mag Angst.

Hätte man mich damals wählen lassen, so hätte ich die Angst dem Schmerz vorgezogen, ganz sicher und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

Doch was war nun aus dieser Entscheidung geworden?

Nunja, Menschen halten sich eben nicht immer an ihre Prinzipien.

"An!"

Ich glaube, wenn ich es könnte, dann würde ich jetzt weinen, ich würde den Schmerz und die Angst mit meinen Tränen davonwaschen wie Schmutz, der sich in meinen Wimpern verfangen hat.

Ich würde meine Mutter in den Arm nehmen, ihre Finger in meinem Haar spüren, eine so beruhigende, vertraute Geste. Aber das kann ich nicht. Und es schmerzt, dass ich es nicht kann. Diese Sehnsucht, sie ist wie ein Folterinstrument.
Doch ich kann mich nicht gegen sie wehren. Genauso wenig kann ich mich auch gegen den Schmerz wehren, auch, wenn er nachlässt.

Die Sehnsucht verdrängt die Angst, die Angst verdrängt den Schmerz. Aber es tut trotzdem weh.

Paradox, nicht wahr?

"An, bitte!"

Sie fleht, die Stimme. Wieso kann ich sie überhaupt hören? Diese wunderschöne Stimme, die die Sehnsucht in mir wachsen lässt.

Das Brennen ist kaum noch zu spüren, liegt über mir wie ein dünner Staubfilm auf einem alten Buch, das zu Ende gelesen und danach einfach vergessen wurde.

Ich will nicht vergessen werden, nur weil ich nicht mehr da bin. Ich habe Angst davor, dass man sich nicht mehr an mich erinnert. Was ist, wenn sie mich irgendwann vergisst, meine Mutter?

"Oh, An."

Nein, sie wird mich nicht vergessen, das kann ich hören. In ihrer Stimme liegt Angst und Verzweiflung, Schmerz und Sehnsucht.
Wie der Tod sich wohl anfühlen wird?
Ich weiß, dass es bald so weit sein wird, ich bin mir so sicher darüber.

Man soll ein Buch niemals nach seinem Einband beurteilen, das haben meine Freunde auch immer gesagt. Sie haben so vieles gesagt.

Darf ich nun keine Angst haben? Davor, zu sterben, meine ich. Niemand kann einem sagen, wie das wohl sein mag. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, vielleicht bemerkt man es erst nicht einmal richtig.

Hast du jemals darüber nachgedacht, wie es ist, zu sterben?
Hast du jemals darüber nachgedacht, wie es ist, tot zu sein?
Ich habe es. Aber hatte ich je eine wirkliche Ahnung?
Nein - Und du hast sie auch nicht.

Ich glaube, bald ist es so weit, bald werde ich die Frage beantworten können.
Das Brennen verebbt immer mehr, es löst sich auf. Doch während das Brennen immer mehr verschwimmt, wird mein Verstand immer klarer.

"An!"

Ich kann es immer klarer hören, immer deutlicher. Mein Körper fühlt sich plötzlich so stark an, dabei bin ich doch schon seit langem so schwach.

Meine Augenlider zucken, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Ich kann etwas sehen, etwas weißes. Die Decke über mir, sie ist weiß.
Mein Blick klärt sich, es ist ein seltsames Gefühl, eines, das schon lange nicht mehr da gewesen ist.

Ich kann den Tubus spüren, meine Hand greift wie von alleine danach. Wann habe ich mich das letzte Mal so bewegen können?

"An, oh Gott. An!"

Nie habe ich es so deutlich gehört wie in diesem Moment. Es ist atemberaubend.
Wortwörtlich atemberaubend.

Das Weiß nimmt alles ein, es ist allgegenwärtig und verdrängt jede andere Farbe, jeden anderen Zustand. Ich würde gerne sagen, es ist unendlich.

Das Brennen ist verschwunden, so, als wäre es nie dagewesen.
An fühlt sich lebendiger an als je zuvor.
Ich habe es mir anders vorgestellt. Schmerzvoller, länger.

Ich glaube, meine Angst war unbegründet.

Ich glaube, das war sie, meine endliche Geschichte.

Die endliche GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt