Prolog

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Wie eine Göttin, Herrin über Gischt, Tang und Gezeiten, stand die marmorne Statue einer Frau auf ihrem Sockel, altargleich in der Mitte der nur vom Meer aus zugänglichen, natürlichen Höhle. Das wütend verzogene Gesicht der schneeweißen, gemeißelten Schönheit wirkte so unbeugsam, so unbeherrschbar und kriegerisch wie die See, die um den Sockel zu ihren Füßen brandete.

In der rechten Hand der stummen Kriegerin befand sich ein Schwert, zum Schlag erhoben, bereit alles zu richten, was sich der Klinge in den Weg stellen würde. Um den linken Unterarm geschnallt war ein Schild, ein Symbol für den Schutz, den sie denen zukommen ließ, die ihr untertan waren und ihn erbaten.

Reeva, gefangen in den Edelsten aller Steine, gebannt mit all ihrer Stärke in Statue. Weiß, wie die ihr schaumig auf die Füße schwappende Gischt und seit bald einem Jahrhundert unverändert. Gefangen, wie ein Insekt in Bernstein.

Im Gegensatz zu ihrer Makellosigkeit standen die zerfurchten, schwarzen Felsen, die feucht vom Meerwasser glitzerten und unvorsichtigen Pilgern den Tod versprachen. Die Gebeine, die schneeweiß in einiger Tiefe schimmerten zeugten von den vielen Verunglückten und im Volksmund nannte man die Höhle bald den „geheiligten Tod", denn bei Flut machten Strömungen das Gewässer fast unbefahrbar und bei Ebbe ging das Wasser soweit zurück, dass das scharfkantige Riff auf dem Boden jedem Schiff gefährlich werden konnte.

Dieser Anblick, die Heilige in der todbringenden, dunklen Kathedrale, forderte Ehrfurcht und ließ die vier Mädchen, die in dem, wie eine Nussschale im Vergleich zur Größe dieser Kathedrale wirkenden, Boot die Kapuzen ihrer schwarzen Mäntel zurückstreifen und die Köpfe in den Nacken legen.

„Seht sie nicht zu lange an, sonst steigt sie herunter und frisst eure Seelen!", gackerte der Alte, der die Mädchen von ihrem Schiff übersetzte, höhnisch.

Sein zerfurchtes Gesicht wirkte im Schatten, für den die gigantische Decke sorgte, wie ein Teil der dunklen Felswand. Obwohl die See ruhig und die Oberfläche fast glatt war, klammerten sich die Mädchen an ihrer Nachbarin oder dem Rand ihres Bootes fest. Jede von ihnen hatte bereits die Schauergeschichten von Gläubigen gehört, die hier von Strömungen erfasst an den Wänden zerschellt oder elendig ertrunken waren.

Der Alte aber manövrierte das Boot überraschend geschickt an der Statue Reevas und den Gefahrenstellen vorbei und nahm Kurs auf den dunklen, hinteren Teil der Höhle, in der das Wasser alles Licht zu schlucken schien und sich ein kleiner Anlegeplatz mit einer Treppe befand.

Das schwache Licht einer Laterne, gehalten von einer weißen Gestalt am Steg, leuchtete ihnen den Weg und ließ die Reflexion schwach auf der Wasseroberfläche schimmern. Ein leichter Ruck ging durch das Boot, als der Fährmann zuließ, dass eine schwache Strömung es erfasste und auf den Steg zutrieb.

Dort warf der Alte zielsicher ein Tau mit Schlinge auf einen Langanker als sie an den Steinstufen angelangt waren und zurrte das Boot mit Geschick fest, das ihm die vielen Jahre gebracht hatten, die schon hinter ihm lagen.

Die weiße Gestalt trat näher heran, beugte sich mit der Laterne in der ausgestreckten Hand über die kauernden Insassen des Bootes und zeigte diesen so ihre hellblauen, von tiefen Falten umgebenen Augen, die neben ihren runzeligen Händen das Einzige waren, was nicht in weißes Tuch gehüllt war.

„Habt keine Angst, meine Töchter."

Eine angenehm sanfte, weibliche Stimme kam leicht gedämpft unter dem gesichtsverdeckenden Tuch hervor und hüllte die vier verängstigten Mädchen in ihren einwickelnden Klang. Eine nach der anderen erhob sich daraufhin und stieg ungelenk mit der Hilfe der in weiß gekleideten Frau aus dem Boot auf den glitschigen, schwarzen Stein des Anlegeplatzes. Hier hatte sich der Geruch des Meeres mit einem süßlichen Moder vermischt und ließ eines der Mädchen, das mit den schwarzen locken die Nase kräuseln, die anderen der Vier bewahrten allerdings ihre blassen Mienen.

„Stellt euch in eine Reihe und nennt mir eure irdischen Namen", wurden sie aufgefordert, was sie auch hastig und sich immer wieder umsehend taten.

„Maria Garner", stellte sich das größte der vier Mädchen mit langen, blonden Haaren vor, ihre grünen Augen waren weit aufgerissen, als stünde sie vor ihrem Henker, und nicht vor einer der Weißen von Mizar gegenüber.

Marias Nachbarin, klein, etwas stämmig und mit glatten, braunem Haar, trat als nächstes hervor und erhob die Stimme, die durch die Höhle hallte und verzerrt von den zerfurchten Wänden zurückgeworfen wurde: „Elizabeth Asbury!"

Als das Mädchen mit den braunen Haaren sich wieder einreihte, tat das vorletzte Mädchen von links einen Schritt nach vorne und knickste leicht, wobei ihr aber die Kapuze zurück auf den roten Schopf rutschte und den Eindruck von Eleganz zerstörte, der dadurch entstand. Vor Scham daraufhin waren ihre Wangen gerötet und ihre Stimme kaum mehr ein Flüstern: „Hadley, Cloe."

Daraufhin ertönte das heisere Gelächter des alten Mannes, der zurück zu dem wartenden Schiff vor der Höhle ruderte. Es hallte geisterhaft von den Wänden wieder und erklang aufgrund des zunehmenden Wellenganges leicht verzerrt, als die Fünf es am Anlegeplatz vernahmen. Maria verschränkte daraufhin fröstelnd die Arme und zog die Schultern hoch, Elizabeth blickte dem Alten nach und Cloe hielt den Blick noch immer gesenkt.

Lediglich das schwarzhaarige, kränklich blasse Mädchen tat unberührt und starrte der weißgekleideten Frau unentwegt in die Augen, als sie brav vortrat, aber sich lediglich mit ihrem Vornamen vorstellte.

„Rose."

Die Blicke, die das Mädchen daraufhin trafen, waren sowohl neugierig, als auch verwundert und in Cloes Fall missbilligend. Um sich davor zu schützen, zog Rose kaum merklich die Schultern hoch und rieb sich mit der linken Hand über dem rechten Unterarm.

„Nun bin ich wohl dran. Ich bin Zad, eine der Weißen von Mizar und von nun an so etwas wie eure Mutter. Oder eher eure Großmutter", erhob die Frau ihre Stimme und wirkte kein bisschen verärgert, denn auch wie zuvor strahlte sie eine Ruhe und Gelassenheit aus.

Sie sah die Mädchen nun eine nach der anderen an, wobei ihr Blick allerdings bei Cloe hängen blieb.

„Komm bitte her, mein Kind. Nur keine Angst", forderte sie das Mädchen mit den zerzausten Haaren auf, die sich aus der strengen Flechtfrisur zu lösen begangen.

Hastig beeilte sich Cloe der Aufforderung nachzukommen und trat vor die Weiße, die ihr erst sanft die Kapuze vom Kopf stricht und ihr dann den Handteller auf die Stirn legte.

„Irdische Namen sind nicht als Schall und Klang. Hüllen die verschleiern wer ihr wirklich seid. Ihr werdet euch von diesem Makel trennen und ihn von euren Körpern waschen. Ihr werdet nicht mehr sein, wer ihr wart, sondern wer ihr wirklich seid. Und so vergeht der Name Cloe, wird fortgetragen von der See und für immer vergessen."

Marmor - ErwachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt