Kaum lag ich bäuchlings auf dem Flurboden, krabbelte eine dicke, fette Spinne auf mich zu. Sie kam direkt und zielstrebig auf meine Nase zugelaufen. Sie war mir so nahe, dass ich schielte. Es schien sich um eine Araneus zu handeln. Ach so, sorry, eine Spinne aus der Gattung der Kreuzspinnen. Deutlich sah ich den für Spinnen typisch zweigeteilten Körper und ihre flinken acht Beinchen. Sofort schoss mir durch den Kopf welche Arten und Varianten dieser Spinnen in Europa lebten.Erinnerte mich, dass es sich um die Spinne des Jahres 2010 handelte und war mir sicher, dass meine Mutter gleich verzückt aufschreien würde. Kaum war der Gedanke ausgeformt hörte ich ihr typisches Quicken:
„Oh seht nur wie wunderbar", sang sie mehr als dass sie es aussprach. Sie bückte sich zu mir herunter und für einen Augenblick meinte ich, sie würde mir aufhelfen wollen. Sie ergriff allerdings nicht meine ihr entgegengestreckte Hand. Liebevoll nahm sie die kurz vor meiner Nase befindliche Spinne auf.
„Seht nur, unser Haus beherbergt das homöopathische Heilmittel Aranea diadema. Es ist wunderbar. Wir sind endlich im Garten Eden angekommen!"
Sie streckte ihre flache Hand mit der darin verschreckten Spinne in die Höhe und drehte sich mehrfach tanzend im Kreis. Ich war froh, dass sie dabei nicht direkt in der Haustür stand. Sicher schauten die Nachbarn bereits wieder. Ich drehte mich angewidert ab. Ich konnte Spinnen nicht leiden. Ich fand sie gemein und hinterhältig. Sie schleichen sich unbemerkt an. Besonders fies sind sie dann, wenn sie sich über dem Bett abseilen und einem im Gesicht landen. Ich hasse solche Überraschungen. Ich hasse überhaupt Überraschungen. Überraschungen verlangen einem Spontanitäten ab. Spontanität ist etwas für Kurzdenker.
Ein kleiner Trost war der bemitleidende Blick von Paps.
»Komm Jo«, sagte er. »Lass uns das Haus erkunden!«
Meine Mutter war mit der Spinne bereits nach draußen verschwunden. Sicher suchte sie ihr einen besonders schönen Platz.
»Deine Mutter wird mit der Spinne noch ein längeres Zwiegespräch führen. Es lohnt sich nicht, auf sie zu warten. Das wird dauern.«
Ich konnte ihm nur zustimmen.
Er hatte in der für ihn typischen Art und Weise die Hände in den Hosentaschen.Seine stets vollgestopften Taschen fanden ihre endgültige Ausbeulung durch seine Fäuste. Ich hakte mich bei ihm ein. Wir marschierten los. Zur Linken ging eine Tür ab. Wir spähten hinein. Ein Esszimmer mit angrenzender Küche. Ich trat ein und versank in den Tiefen eines Flauschteppichs.
»Oh Paps, rette mich...« ich tat theatralisch und spielte die Ertrinkende. Mein Vater folgte mir in den Raum und verstand. Beide schauspielerten wir die im Teppich Versinkenden. Nur mühevoll konnten wir uns bis zur Küche vorarbeiten. Wir gratulierten uns gegenseitig für die Überwindung der flauschigen Untiefen und lachten herzhaft. Die Küche war klein, aber hübsch eingerichtet. Ich schaute neugierig in die Schränke. Sie war bestückt mit Geschirr und Besteck. Ich blickte verwundert zu Paps.
»Was ist mit unserem Haushalt?«, fragte ich ihn irritiert.
»Der wird eingelagert. Das hier war mal ein Ferienhaus und wurde immer nur zeitweilig vermietet. Die Vermieter sind inzwischen alt. Sie interessieren sich nicht für das Inventar im Haus. Wir sollen alles behalten.«
»Sicher können die Herrschaften dieses Haus selbst nicht mehr nutzen, weil ihre alten, gebrechlichen Beine nicht in der Lage sind, diesen Teppich-Sumpf zu überwinden!«
Paps musste erneut lachen und berichtete, dass die ehemalige Hausherrin Engländerin sei. In England gelten solche Teppiche als besonders chic.
Wir führten unsere Erkundungstour durch das Haus fort. Wieder zurück im Flur betraten wir einen gegenüberliegenden Raum, der sich als Wohnzimmer mit ebenso flauschigem Teppich erwies. Am Ende des kleinen Flurs lag rechts noch ein größerer Raum. Das Schlafzimmer. Gegenüber lag ein Hauswirtschaftsraum, der eine Tür in den Hof hatte. Ein Mini-Badezimmer bildete den Kopf des Flurs. Dieser war stellenweise so schmal, dass Paps und ich nicht nebeneinander hindurchschreiten konnten.
In der oberen Etage gingen insgesamt vier Türen vom Flur ab. An gleicher Stelle war auch hier das Badezimmer. Die Räume in der ersten Etage waren alle mit Einzel- oder Doppelbetten bestückt. Paps stellte mir alle Räume zur Wahl. Ihm gehöre lediglich der Anbau. Dort werde er sein Labor einrichten. Und überhaupt.... Er verstummte und schaute geistesabwesend. Plötzlich schien er sich zu erinnern und ihm war eingefallen, dass er an die Arbeit müsse. Schwups...weg war er. Typisch mein Paps. Er war stets mehr mit den Gedanken bei der Arbeit, als im wahren Leben. Sein Kopf arbeitete ständig an neuen Erkenntnissen. Er bezeichnete sich zudem gerne als Freizeiterfinder. Leider hatte er nur Ideen, die schon andere vermarkteten oder die kein Mensch brauchte (außer Paps vielleicht).Wenn ich seine Arbeit richtig verstanden hatte, dann bestand sie hauptsächlich darin festzustellen, ob bestimmte Materialien miteinander kombinierbar sind. Wie sie sich miteinander verhalten. Wie beständig sie sind oder welche Eigenschaftsveränderungen bei gewissen Anforderungen wie Kälte, Druck, Hitze entstehen. Mit Gewissheit konnte ich seine Arbeit allerdings nicht beschreiben. Er selbst war dazu nicht einmal in der Lage. Aufklärung anderer war ihm nicht bedeutsam genug, um sich die Mühe einer Beschreibung zu machen. Lieber stürzte er sich tagtäglich erneut in seine Herausforderungen.
Ich sah mir die Zimmer nochmals in Ruhe an. Hier sollte ich ab jetzt wohnen? Hatte man versäumt mich zu fragen, ob ich das will! Konnte man das überhaupt mit einem Kind machen? Mich dermaßen entwurzeln? Fern ab von meiner Heimat, meinen Freunden, meiner Schule? Dabei fiel mir ein, dass ich noch nie sehr heimatverbunden war. Freunde hatte ich keine. Wie auch? Viel zu beschränkt waren sie alle. Konnten es nicht vertragen, wenn ich ihnen das gesagt hatte, pah! Und die Schule? Na ja! Die war schon schön. Aber ohne Frau Schmallenbach...! Die anderen Lehrer konnten mit mir nicht mithalten. Es würde langweilig werden ohne Frau Schmallenbach.
Ich betrat das Zimmer, das am weitesten weg vom Schlafzimmer meiner Eltern lag und setzte mich auf das Bett. Umgehend versank ich in dessen Tiefen und rutschte schließlich plumpsend zu Boden.
'Was ist das für ein Scheiß?', fragte ich mich. Und diese Frage sollte ich mir noch häufiger stellen.
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Geistreiche 13
Teen FictionJoe ist 13, meistens schlecht gelaunt und ihr Leben ist einfach nur schrecklich. Als sie dachte es könnte nicht mehr schlimmer werden, offenbaren ihr ihre Eltern, dass sie von der Großstadt in ein abgelegenes Dorf im Sauerland ziehen. Das neuerworbe...