Meine Eltern meinten einen Abendspaziergang machen zu müssen. Ich verkniff mir die Frage »Wieso«. Dies hätte bloß einen Monolog über die kraftspendende Eigenschaft der Wälder bei meiner Mutter ausgelöst. Ich verzog mich auf mein Zimmer.
Verloren stand ich mitten im Raum. In der hinteren Ecke entdeckte ich Kartons. Sie waren mit der unverkennbaren Schrift meiner Mutter verziert. Malerei statt Schrift! Ich versuchte zu lesen. ›Kinderzimmer‹ war darauf gemalt. ›Kinderzimmer‹ speite ich das Wort heraus. Ich bin 13. Genervt verdrehte ich die Augen und öffnete den ersten Karton. Darin befand sich Arbeitsmaterial meines Vaters. Sein antiquarisches Mikroskop, einige Gläser und Behälter. Verschiedene Magnete und unbekanntes Zeug. Typisch für meine sich in höheren Sphären befindende Mutter. Es würde noch einige Zeit dauern, bis wir unsere Sachen am richtigen Platz hätten. Bei dem nächsten Karton handelte es sich tatsächlich um meine Kleidungsstücke. Ich stellte ihn auf das Bett und musste ihn mit Kissen drapieren, damit er nicht im Bett versank und umkippte. Ich holte die ersten Sachen heraus. Winterpullis, dicke Hosen und einen Wintermantel. Verwirrt schaute ich die Sachen an. Was geht in meiner Mutter vor? Es ist Juli! Ich beschloss diese Sachen ganz weit hinten im Schrank zu verstauen. Ich konnte nur hoffen, dass sie mir auch Sommersachen eingepackt hatte. Ich versuchte alle Sachen auf einmal zu nehmen. Mühevoll hob ich sie hoch und musste mehrmals heruntergefallene Sachen neu aufstapeln. Blind tastete ich mich nach links Richtung Kleiderschrank. Mit den Füßen fühlte ich mich heran und wartete auf den Widerstand. Schritt für Schritt schlurfte ich zum Schrank. Und weiter und weiter. Wie weit konnte es denn noch sein. Meine Arme wurden lahm und sackten langsam ab. Ich wagte größere Schritte in der Hoffnung, den Kleiderschrank endlich zu erreichen. Wieder trat ich ins Leere. Nach einer gefühlten Ewigkeit stieß ich endlich an und suchte vorsichtig mit der linken Hand die Schranktür. Erst ließ sie sich nicht bewegen. Ich versuchte an dem Türknauf zu rütteln. Nichts geschah. Fluchend ließ ich davon ab. Jedoch sprang sie kuzerhand selber auf. Sie knarrte fürchterlich. Wüsste ich es nicht besser hätte ich vermutet, ein eingerostetes Schlossportal würde sich öffnen. Ein plötzlicher Windstoß ergriff den obersten Pulli und ich bekam ihn ins Gesicht. Noch blinder als zuvor tastete ich mich weiter, spürte jedoch kein Regal. Genervt warf ich den ganzen Kleiderstapel nach vorne. Eine Fluse vom Pullover hatte sich in mein Auge gebohrt und es tränte. Ich schloss die Augen und versuchte reibend den Baumwolleindringling zu entfernen. Ein kalter Schauer ergriff mich erneut. Mein Finger im Auge schien zu gefrieren. Ich machte einen Schritt zurück, ertastete die Tür und knallte sie zu. Ich stolperte nach hinten. Ein Ausfallschritt konnte mich nicht retten. Ich fiel. Allerdings landete ich nicht, wie erwartet auf dem Fußboden, sondern auf dem Bett. Wie konnte das sein? Ich war doch gerade erst eine Vielzahl von Schritten vom Bett bis zum Schrank gelaufen. Ich zwang mich zumindest das flusenfreie Auge zu öffnen. Alles war wie gehabt. Schrank und Bett waren nur ein kleines Stück voneinander entfernt. Wie war das möglich? Spinne ich? Ich wollte mir diese Frage lieber nicht beantworten. Statt dessen durchsuchte ich den nächsten Karton.
Erst beim vierten Karton fand ich wieder Sachen von mir. Darin waren einige meiner Bücher und Hefte verstaut. Ich sah mich suchend nach einem Regal um. Nichts. Kahle Wände. Ich war mir jedoch sicher, in einem der Zimmer ein kleines Regal gesehen zu haben. Ich machte mich auf die Suche. Sonderbarerweise stand in keinem der anderen Zimmer etwas, was annähernd als Regal herhalten hätte können. Ich war mir sicher, eines gesehen zu haben. Fieberhaft überlegte ich, in welchem Raum es gewesen sein könnte. Ich hatte doch alle Räume abgesucht. Übrig blieb nur noch das Zimmer meiner Eltern. Ich ging die Treppe runter und musste kurz überlegen, wo das Zimmer meiner Eltern lag. Richtig...den Flur entlang Richtung Bad. Davor die rechte Tür. Ich ging den schmalen Flur entlang. Der Boden war mit großen fliesenähnlichen Steinen versehen. Das hatte ich schon mal irgendwo gesehen. Woran erinnerte mich dieser Boden bloß. Er wirkte geradewegs wie aus einem Schloss des 18. Jahrhunderts. Bei diesem Gedanken, fiel es mir wieder ein. Im letzten Urlaub waren wir bei einer Besichtigung von Schloss Schwanstein. Dort gab es auch einen Wintergarten. Genau diese Steine hatten dort gelegen. Wie konnte das sein. Ich bückte mich und befühlte den Boden. Der war mir beim Rundgang mit Paps gar nicht aufgefallen. Der Boden war kalt und erstreckte sich ein ganzes Stück vor und hinter mir. Jede Bodenfliese war fast einen Quadratmeter groß. Ich versuchte sie zu zählen, doch bis zum Bad konnte ich wegen des schlechten Lichts nicht alle erkennen. Ich musste beim Zählen voranschreiten. Bei der Zahl 53 gab ich auf. Ich war noch immer einige Meter von der Badezimmer- und Schlafzimmertür entfernt. Warum war mir beim Rundgang mit Paps alles so klein vorgekommen. Wir konnten uns doch kaum nebeneinander durch den Flur bewegen? Ich scheuchte diese Frage wie eine lästige Fliege auf der Nasenspitze weg und schritt auf das Schlafzimmer zu. Je weiter ich ging, desto mehr entfernte sich die Tür! Zum ersten Mal in meinem Leben stand mir der Mund offen. Ich blieb vor Schreck stehen. Ich atmete beruhigend ein und aus. Dann machte ich, vorsichtig als balancierte ich auf einem Hochseil, einen Schritt nach vorn. Dann den nächsten und übernächsten. Ich kam der Tür näher. Endlich stand ich davor und berührte voller ängstlicher Erwartung die Türklinke. Mit der Kälte der Klinke spürte ich auch, wie mir kalter Angstschweiß den Rücken runter lief. Für einen Augenblick zögerte ich. Dann meldete sich mein vertrauter Verstand. Alles Quatsch. Optische Täuschungen wegen schlechter Lichtverhältnisse. Auch das vegane Essen wird meine Sinneswahrnehmungen benebelt haben. Mit vertrauter Geistesgegenwart meines Verstandes drückte ich die Klinke herunter und trat ohne Zögern herein. In dem Bruchteil einer Sekunde verabschiedete sich mein Verstand erneut. Alles was mir möglich war, war reine Reaktion. Zum ersten Mal in meinem Leben übernahmen die Instinkte in mir die Regie. Panisch sprang ich zurück, knallte die Tür hinter mir zu und rannte so schnell ich konnte die Treppe hoch zurück in mein Zimmer. Dort sprang ich auf mein Bett und griff hilfesuchend nach dem Kissen. Ich drückte es an meinen Bauch. Ich hielt es so fest an mich gepresst, dass mir schwindelig wurde. Ich war völlig außer Atem. Mein Herz raste wie ein Schnellzug von Berlin nach München. Ich presste das Kissen fester und fester an mich. Suchte Halt. Ich erdrückte meine Sauerstoffzufuhr. Es wurde dunkel.
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Geistreiche 13
Teen FictionJoe ist 13, meistens schlecht gelaunt und ihr Leben ist einfach nur schrecklich. Als sie dachte es könnte nicht mehr schlimmer werden, offenbaren ihr ihre Eltern, dass sie von der Großstadt in ein abgelegenes Dorf im Sauerland ziehen. Das neuerworbe...