5 - Marissa

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Der Benachrichtigunston meines Handys war viel zu laut. Ich befürchtete, dass es jemand gehört hatte, was natürlich absurd war, es war zwanzig nach drei morgens.
Ich blinzelte gegen das grelle Licht des Bildschirms, um etwas zu lesen. Matt hatte geschrieben.
Bin da.

Mein Puls erhöhte sich unwillkürlich. Bin auf dem Weg, schrieb ich zurück. Dann richtete ich mich auf und strich meine Kleidung glatt. Zuvor hatte ich fertig angezogen mit Schuhen auf dem Bett gelegen und meine Gedanken waren nicht zur Ruhe gekommen.

Meine Eltern hatten mich bereits erwartet, als ich an der Seite des Arztes und mit den Entlassungspapieren in der Hand in die Empfangshalle des Krankenhauses betrat. Die Augen meiner Mutter waren gerötet, doch sie zwang sich zu einem Lächeln und nahm mich stumm in den Arm. Ich erwiderte die Umarmung und musterte über ihre Schulter meinen Vater, seine Haare waren zerzaust und er sah aus, als hätte er kaum geschlafen. Das ist echt nicht fair, schoss es mir durch den Kopf, er hatte schon seinen Bruder verloren, als die beiden noch Teenager waren, und jetzt stirbt seine Tochter im selben Alter.
Ich biss mir auf die Lippe, während ich versuchte, nicht zu weinen, damit sie nicht dachten, ich würde meinen Tod betrauern.
Zu Hause hatte meine Mutter mein Lieblingsessen gekocht, Tortellini in einer Käsesahnesauce. Am Esstisch versuchten wir krampfhaft Normalität zu bewahren, aber das scheiterte kläglich. Mein Bruder starrte nur auf das Essen und schob es schwiegend hin und her, er sah auch wirklich sehr mitgenommen aus. Das bestärkte mich nur in meinem Entschluss. Ich konnte nicht hier bleiben, das würde ich nicht ertragen können.
Als wir fertig waren, umarmte ich sie alle noch einmal kurz und zog mich mit der Entschuldigung, ich sei müde, auf mein Zimmer zurück. Dort setzte ich mich direkt an den Schreibtisch und zögerte, nicht wissend, was ich ihnen schreiben sollte. Schließlich seufzte ich tief und zwang mich den Stift auf dem Blatt zu bewegen. Ich schrieb meiner Familie, sie müssten sich keine Sorgen machen, und dass ich noch die Welt sehen wolle bevor ich starb. Und ich dankte ihnen, für alles, weil ich nicht wusste, ob ich später noch die Gelegenheit haben würde.

Jetzt griff ich zu meinem gepackten Rucksack, schlich langsam in die Küche, wo ich noch einige Getränkeflaschen in die Tasche stopfte und legte den gefaltenen Brief auf den Esstisch. Dann ging ich weiter zur Haustür. Mit der Hand an der Klinke hielt ich inne und atmete ein mal tief durch. Vorfreude ergriff mich und während sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl, trat ich aus der Tür auf das wartende Auto zu.

Zunächst warf ich meinen Rucksack auf die Rückbank und ging um das Auto herum, um auf der Beifahrerseite einzusteigen. Doch der Platz war besetzt. Kyle sah mich mit einem schiefen Grinsen an. Ich starrte eine Zeit lang durch die geschlossene Tür zurück, erst als Matt auf der Fahrerseite den Motor startete, konnte ich mir einen Ruck geben und zu meiner Tasche auf die Rückbank klettern.

"Was macht Kyle hier?", fragte ich direkt, als Matt anfuhr.
"Sterbebegleitung", erwiderte Kyle scherzhaft, "Jetzt sag nicht, du würdest dich nicht freuen mich zu sehen, ich kenne dich besser" Er warf mir ein Lächeln zu.
Natürlich freute ich mich, aber ich hatte Angst, um ihn. Das würde es doch nur noch schlimmer machen.

Matt warf seinem Bruder einen kurzen Seitenblick zu, es war zu dunkel, um seine Miene lesen zu können. "Kyle hat mich gesehen und bemerkt was wir vorhaben", erklärte er dann wieder mit Blick auf die Straße, "Ich konnte ihn nicht aufhalten. Außerdem ist es vielleicht ganz gut, wenn er dabei ist, wir wissen ja nicht, wie schlecht es uns gehen wird"
Er drehte sich prüfend zu mir um und seine Augen bohrten sich kurz in meine. "Wie geht es dir?", fragte er, nachdem er seinen Blich wieder auf die Straße richtete.
Ich hörte die Besorgnis aus seiner Stimme heraus und zuckte mit den Schultern. "Gut", sagte ich, um nicht zugeben zu müssen, wie sehr mich das Verhalten und die Tauer meiner Familie wirklich mitnahmen. Aber es war keine Lüge, physisch ging es mir wirklich gut, und ich freute mich wahnsinnig auf die bevorstehenden Abenteuer mir Matt und Kyle. Ein kleiner Teil von mir erwartete den Tod sogar voller Neugierde.

Während der Fahrt war ich dann wohl doch eingeschlafen, denn als ich nach einer vermeindlich kurzen Zeit meine Augen aufschlug, war die Sonne bereits aufgegangen und statt Matt saß jetzt Kyle auf dem Fahrersitz, während sein Bruder mit der Stirn an das Fenster gelehnt neben ihm saß. Ich dachte, er würde auch schlafen, bis er sich jedoch, als ich mich auf der Rückbank reckte, zu mir umdrehte. "Na, wieder wach?", fragte er mit einem Grinsen.
Ich musste gähnen. "Oder zumindest so etwas ähnliches", erwiderte ich, dann wandte ich meinen Blick von ihm ab auf die Straße, auf der Suche nach irgendwelchen Schildern, die mir verrieten, wo wir waren.
"Noch etwa eine Stunde", klärte mich Matt mit einem Blick auf sein Handy, welches uns als Navi diente, auf, ohne dass ich gefragt hatte.

Neugierig wie ein kleines Kind starrte ich aus dem Fenster, als wir auf den bereits gut gefüllten Parkplatz des Freizeitparks fuhren. Hinter der hohen Mauer, die den Park umgab, konnte ich bereits ein Riesenrad, einen hohen Turm und die Hochpunkte einer Achterbahn ausmachen. Matt schaltete den Motor aus und noch bevor ich aus dem Auto springen konnte, hatte er schon die hintere Tür geöffnet und hielt mir seine Hand entgegen.
"Mylady, willkommen auf Eurem Schloss", sagte er grinsend.

Ich lächelte breit, legte meine Hand in seine und ließ mich aus dem Auto ziehen. Mich mit Mylady anzusprechen, war sehr passend gewesen, denn der Eingang, der sich bald vor uns erhob, hatte die Form eines Schlosstores und hinter der geöffneten Eisengittertür stand auf einem großen Platz aus Pflastersteinen eine Burg, aber kein Palast, wie man ihn vielleicht erwartet hätte, dies wirkte mehr so, als würden hinter den steinernden Wänden Folterkammern lauern.
All das wirkte für mich viel mehr wie aus einem Traum, weit entfernt. Das einzig reale war die Hand, die noch immer meine hielt, und der Junge dem sie gehörte. Es war, als sei jeder einzelne Nerv meines Körpers, zu meiner Hand und zu der Stelle, an dem Matts Arm meinen berührte gewandert, um ja nichts von der Berührung zu verpassen.
Etwas enttäuscht kehrte ich vollständig zurück in die Realität, als Matt meine Hand plötzlich los ließ, um unsere Eintrittskarten zu kaufen. Erst als sich mein Herzschlag allmählich wieder beruhigte, merkte ich wie schnell es wohl geschlagen hatte.

Kyle, der bisher vor uns hergelaufen war und daher nichts von dem Händchen halten mitbekommen hatte, drehte sich jetzt grinsend zu mir um. "Und?", fragte er, "Was sagst du?"

Noch einmal, dieses Mal wirklich aufmerksam, nahm ich die Burg war und erkannte einige Fahrgeschäfte, die darin und dahinter angesiedelt waren. Ich hörte kreischende Schreie aus verschiedenen Richtungen und mittelalterliche Musik, ich roch den süßen Duft gebrannter Mandeln und Zuckerwatte, den mir der Wind zu wehte. Erst als ich mich wieder zu Kyle wandte und ihn angrinsen wollte, stellte ich fest, dass ich die ganze Zeit schon so breit gelächelt hatte, dass es wahrscheinlich schon gesundheitsschädlich war.

"Es ist super", erwiderte ich dann einfach und stellte mich neben ihn, "Also, was gibt es hier alles und was machen wir zuerst?"
"Was es gibt, wirst du ja sehen, wir machen das, was du willst", erwiderte Kyle, den meine kindliche Freude sichtlich amüsierte.

Matt trat gerade von der Kasse weg und winkte uns mit drei Eintrittskarten zu sich.

35 daysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt