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Julie, 1979

Man hört immer schöne Dinge über Heime. Zum Beispiel, dass die Kinder und Jugendlichen alle keine Manieren haben, rebellieren und sogar schon mit vierzehn anfangen zu rauchen und zu trinken. Das trifft natürlich nicht auf jedes Heim zu, aber auf unseres passte es wie die Faust auf's Auge...

Es war ein wirklich schöner Sommertag; Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien, der Geruch von Blumen lag in der Luft– das war außerhalb des Heimes. Innerhalb ging es ganz anders zu;
Natürlich hörte man die Vögel zwitschern und die Sonne schien auch, aber der Blumenduft war verschwunden. Anstatt frische Blumen roch man da nämlich frischen Zigarettenduft und meistens hörte man nicht einmal mehr die Vögel zwitschern, da sich wieder irgendwelche Mädchen prügelten.

Ich zog an meiner Zigarette und schaute umher. Heute war es mal friedlich. Niemand verprügelte sich, man hörte zwar ab und zu ein paar Beleidigungen aus jedem Gespräch, aber das war hier nichts Neues.
Wie immer saß ich mit meinen Freunden vor dem roten Backsteinhaus. Eigentlich schliefen alle von denen, denn sie waren die ganze Nacht unterwegs. Heimliche Besuche bei den Jungs.
Ich musterte sie alle. Wie ich das immer tat wenn sie schliefen. Niemand hatte sich verändert nach all den Jahren.
Lara hatte noch immer das kindliche Gesicht mit den niedlichen Sommersprossen und blonden Haaren.
Annie hatte auch noch ihre kindlich geflochtenen Zöpfe und Gail hatte auch noch ihr unschuldiges Gesicht, nur ihre Unschuld hatte sie schon lang verloren.
Die letzte der Gruppe war ich. Die älteste.
Ich fühlte mich mit meinen sechzehn Jahren an meinem Höhepunkt der Jugend. Ich hatte vieles erlebt, aber nie hatte ich so viel erlebt wie mit sechzehn. Als die höchst angesehene in meiner Gruppe nahm ich mir auch sämtliche Freiheiten raus. Ich hatte das sagen und das nutzte ich sehr oft aus...

Gerade als ich mit meiner Zigarette fertig war, ertönte die laute Klingel über den ganzen Hof. Das hieß, dass es wieder mal was wichtiges zu besprechen gab, mit der Leiterin des Heimes, Mrs. Danton.
Ich seufzte und warf das Zigarettenstummel in den Busch neben mir, dann rüttelte ich an Lara, Annie und Gail und stand auf.
Alle machten sich schon auf den Weg in die Kantine.
Alle fragten sich was es wohl wichtigeres gäbe, als auf dem Gelände rumzugammeln und zu tun was immer wir auch taten.

In der Kantine nahm jeder Platz und wartete neugierig darauf, was Mrs. Danton wohl zu sagen hatte.
Als sie den Raum betrat wurde fast alles ruhig, hier und da gab es noch Getuschel.

„Nun", begann sie zu sprechen, „Ich habe euch etwas mitzuteilen."
Ach was.
„Wie ihr wisst wurden schon im letzten Monat ein paar Kinder und Jugendliche von Pflegefamilien aufgenommen. Auch diesmal kann ich die freudige Nachricht verteilen, dass ein paar Kandidaten unter euch sind.", verkündete sie Freudestrahlend.
Nur unsere Gesichter, die Gesichter der Heimkinder, verdunkelten sich.
Als nächstes begann Mrs. Danton ein paar Namen aufzuzählen.
Ich schaute auf den schmantigen und zerkratzten Tisch vor mir, in der Hoffnung niemand von meinen Freunden müsste gehen.
„...und Susan Piper.", Mrs. Danton schaute von ihrem pinken Zettelchen auf und lächelte, „Die eben genannten Personen kommen bitte in genau einer halben Stunde in mein Büro.", dann verließ sie die Kantine.
Ich spürte nur dieses Stechen im Bauch und dann wurde ich von allen Seiten gerüttelt.
„Susan! Hast du das gehört?!", fragten meine Freunde erstaunt.
„Ja", ich versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, „habe ich."
„Und was wirst du jetzt tun?", fragte Gail erstaunt.
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte so cool wie möglich zu wirken, „Na das was ich immer tu'. Ich werde schön brav in das Büro von Mrs. Danton gehen, werde mich später brav den Pflegeeltern vorstellen und werde ihnen später die Hölle heiß machen, sodass sie mich wieder hierher bringen.", grinste ich und versuchte mir meine Trauer nicht anmerken zu lassen.
Ich wollte hier nicht weg. Dieses Heim ist nach all den Jahren mein zu Hause. Ich war zwar oft in Pflegefamilien, jedoch meisterte ich es nach weniger als einem oder zwei Monaten wiederzukommen. Für viele war dieses heruntergekommene Heim ein zu Hause, in dem sie die Zeit Ihren Lebens hatten.
Manche kamen wieder und manche nicht und genau davor hatte ich Angst.
Es gab hartnäckige Familien, die dich wirklich nicht weggeben wollten und versuchten dich zu erziehen. In so eine wäre ich fast einmal geraten.

Und diesmal war ich mir auch nicht mehr sicher. Ich kannte die Familie nicht, wusste nicht ihren Namen, jedoch hatte ich ein komisches Gefühl. Dieser Ehrgeiz, denen das Leben zur Hölle zu machen, war nicht da.
Außerdem spürte ich Mitleid für alle die, die ebenfalls genannt wurden...

Wilde Augen (David Bowie FF) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt