Nach der Pause ging es weiter mit Naturlehre – das schlimmste Fach nach Ashleys Meinung. Seufzend liess sie sich neben Dave nieder, die anderen Plätze neben ihren Freunden waren schon besetzt und eine gute Gelegenheit muss man doch packen. Dave grinste ihr zu. „Hey Ash. Hast du heute einen strengen Tag oder warum bist du so demotiviert drauf?" „Geschichte, Naturlehre, Informatik und Mathe – alle schlimmen Fächer an einem Tag. Wie kannst du da noch gut drauf sein?", entgegnete sie. „Weisst du, nur weil du nicht gut in diesen Fächern bist, heisst das nicht, dass andere auch schlecht sind." Seine Augen blitzten amüsiert. „Ich habe nie gesagt, dass ich schlecht in Naturlehre und Mathe bin." Als sein Grinsen noch breiter wurde gab sie zu: „Okay, ich bin eine Niete. Aber dafür bist du nicht gut in den Sprachen." „Jaa, das stimmt. Aber zu einem anderen Thema: Was ist das für eine Narbe an deiner Schulter?" Dave deutete auf Ashleys linke Schulter. Da sie heute ein schulterfreies Top angezogen hatte, konnte man die etwa drei Zentimeter lange Narbe sehen. „Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Die habe ich schon seit ich denken kann. Irgendwie habe ich grosse Lücken in meiner Kindheit." Sie zuckte mit den Schultern. Dave wollte gerade etwas erwidern, als Knorke hereinkam und mit dem Unterricht begann. Wie jedes Mal war der Unterricht todlangweilig und Ashley musste aufpassen, dass sie nicht einnickte. Trotzdem versuchte sie dem Lehrer zuzuhören, obwohl sie nur Bahnhof verstand. Ein Blick durch das Schulzimmer sagte ihr, dass wieder die meisten Schüler ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Aus irgendeinem Grund grinste Riley und kritzelte etwas auf einen Zettel. Dieser landete wenig später auf Ashleys Pult und sie las:
Ich glaube, ich habe herausgefunden wen die Frau am Morgen gemeint hat.
Ashley unterdrückte ein Lachen und konnte gerade noch den Zettel verschwinden lassen, als Knorke bei ihr ankam, um Arbeitsblätter zu verteilen.
Nach der Stunde spazierten Ashley und Riley zusammen raus. Doch bevor sie das Schulareal verlassen hatten, holte Dave sie ein. „Ash. Ich wollte dir noch meine Hilfe anbieten – ich weiss ja, dass Naturlehre nicht deine Stärke ist. Wir könnten uns gegenseitig Nachhilfe geben. Ich brauche dringend Hilfe in Englisch und Französisch." Verlegen lächelnd sah er sie an. „Ähm, klar. Danke. Wie wäre es gleich heute nach der Schule?" „Super. Tschau." Und schon war er weg. Ashley und Riley grinsten sich an.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Nach Mathe gingen Dave und Ashley zu Ashley. Sie wohnte mit ihren Eltern oberhalb der Pizzeria, die ihre Eltern führten. Nachdem sie ihre Eltern kurz begrüsst hatten, gingen sie nach oben in Ashleys Zimmer. Ihr Zimmer war gross und es herrschte Ordnung. An den Wänden waren Fotos von ihren Freunden aufgehängt.
Bevor sie anfingen zu lernen sagte Dave in einem nachdenklichen Ton: „Irgendwie ähnelst du deinen Eltern überhaupt nicht. Sie sind beide klein und haben schwarze Haare. Du bist gross und hast braune Haare. Ausserdem habt ihr nicht die gleiche Augenfarbe. Und du hast gesagt, dass deine Kindheit eine grosse Lücke ist. Findest du das alles nicht merkwürdig? Kann es sein, dass ... Also, kann es sein, dass du adoptiert bist?" Ashley konnte seinen Blick nicht deuten. „Über sowas habe ich noch nie nachgedacht. Aber meine Eltern sind immer ehrlich zu mir. Sie hätten es mir gesagt." Damit war das Thema abgeschlossen und sie fingen an zu lernen.
Am frühen Abend, als Dave gegangen war, schlich sich Ashley ins Büro. Sie machte sich keine Sorgen, dass ihre Eltern sie beim schnüffeln erwischte – Abends hatten sie in der Pizzeria viel zu tun. Als erstes schaute sie ihr Fotoalbum an. Und das erste Mal fiel ihr auf, dass keine Fotos von der Geburt oder der Schwangerschaft vorhanden waren. Die Fotos begannen erst mit dem Alter von etwa einem Jahr. Misstrauisch durchsuchte sie den Schrank nach ihrer Geburtsurkunde. Wenig später fand sie diese auch – im Chaos ihrer Mutter – und stutzte. Auf dem Stück Papier vor ihr war so vieles anders als es ihre Eltern erzählt hatten. Sie wurde in einem anderen Spital geboren und hatte sogar einen anderen Nachnamen. Genau der gleiche wie - . Aber konnte das möglich sein? Mittlerweile zitterte sie am ganzen Leib. Als sie auf das Datum sah, stockte ihr der Atem. Mit bebenden Fingern holte sie ihr Handy hervor und tippte eine Nummer ein, die sie auswendig kannte. Bevor die Person am anderen Ende überhaupt ein Hallo sagen konnte, mit heiserer Stimme brachte Ashley „ Grace! Adoptiert ... Schwester... in fünf Minuten bei dir" hervor. Das „WAS?!" am anderen Ende ignorierend, legte sie auf und das Stück Papier in der Hand immer noch umklammernd rannte sie zu ihrem Fahrrad und fuhr so schnell wie möglich zu ihrer besten Freundin. Oder ihrer Schwester. Zwillingsschwester. Grace wartete schon vor der Haustür ihrer Wohnung. Ashley fiel Grace um den Hals und diese zog Ashley ins Wohnzimmer und auf die Couch. Nach aussen schien es so als wäre Grace total ruhig. Doch Ashley wusste genau, dass sie sehr aufgeregt war. Wortlos drückte sie Grace die inzwischen zerknitternde Geburtsurkunde in die Hand. Grace Augen wurden immer grösser, bis sie sagte: „Aber das heisst doch, dass du meine ... Zwillingsschwester bist. Wie kann das sein?" In diesem Moment räusperten sich Grace Eltern. Bisher hatten sie in der Küche gestanden und das Geschehen unruhig beobachtet. „Es tut uns so leid. Es stimmt: Ihr beide seid Zwillingsschwestern – und du bist unsere Tochter, Ashley. Wir konnten uns nicht um zwei Kinder kümmern und waren gezwungen eines wegzugeben. Deine Adoptiveltern, die gute Freunde von uns waren, konnten kein Kind erzeugen und baten uns, ein Kind ihnen zu geben. Einige Jahre später ging es uns zwar wieder besser, doch wir trauten uns nicht, die Sache aufzuklären. Wir hatten Angst, dass ihr uns hasst, wegen dem schrecklichen Fehler, den wir gemacht hatten. Bitte verzeiht uns. Wir haben euch beide genau gleich gerne."
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Kurzgeschichten
Short StoryHey!! In diesem Buch findet ihr Kurzgeschichten von mir. Wenn ihr Vorschläge für mich habt, könnt ihr mir gerne schreiben. ;-) Ich würde mich sehr über Rückmeldungen freuen. Viel Spass beim lesen!