2. Kapitel

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Otto, Juni 1940

„Was verstehst du nicht daran, wenn ich dir sage, dass du draußen bleiben sollst?", schreit sie mich wutentbrannt an. „Schrei mich nicht so an! Mutter hat gesagt, dass ich dir sagen soll, dass du runterkommen sollst. Sie braucht deine Hilfe.", versuche ich es ihr so ruhig wie nur möglich zu erklären.
Wir streiten uns in letzter Zeit andauernd. Sie ist immer total gereizt. Ich mein, ein bisschen kann ich es verstehen, da sie so eine schwere Kindheit hatte, aber deswegen darf sie mich noch lange nicht so anschreien.

„Was interessiert es mich, dass deine Mutter von mir Hilfe braucht? Ich bin keine Sklavin! Lasst mich einfach alle in Ruhe!", schreit sie und schlägt mir ihre Zimmertür vor der Nase zu. Was denkt sie eigentlich wer sie ist?

„Lisbeth! Komm sofort nach unten!", rufe ich wütend, während ich ihre Tür öffne. „Oder du...", weiter komme ich nicht, denn sie rennt genervt an mir vorbei die Treppe hinunter.

Lisbeth ist in letzter Zeit wegen allem total genervt. Anscheinend hat sie noch immer Albträume, in denen ihre Erinnerungen ihr begegnen. Sie sollte echt mal mit jemanden, über das was passiert ist reden.

Als ich nach unten komme, sitzt meine Mutter am alten Holztisch in der Küche. Ich sehe gerade noch wie Lisbeth mit einem Wäschekorb in den Waschraum rennt.
Langsam gehe ich auf meine Mutter zu. Jedoch bekommt diese gar nicht mit, dass ich vor ihr stehe. Stattdessen starrt sie Löcher in die Luft. In ihrer Hand, die unkontrolliert zittert, hält sie einen Brief. Ist der von der Armee? Ist irgendetwas mit meinem Vater passiert? Ist er tot? Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Wir haben schon seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Seitdem er an der Front kämpft, kommen seine Briefe immer unregelmäßiger an, weswegen ich mir auch keine Sorgen gemacht habe. Bis jetzt.

„Was ist los?", frage ich besorgt. „Ist was mit Vater?" sie reagiert nicht. „Mama?", schreie ich schon fast panisch und rüttle sie an den Schultern. „Nein, deinem Vater geht es gut.", sagt sie endlich mit schwacher Stimme. „Was ist denn dann?" frage ich. Sie öffnet ein paarmal ihren Mund um etwas zu sagen, bringt jedoch kein einziges Wort heraus. Stattdessen läuft ihr eine Träne über die Wange. „Hier... Hier lies selbst." Bringt sie schließlich heraus und hält mir zitternd den Brief hin.

Mit einem komischen Gefühl im Bauch nehme ich den Brief an. Er ist aus einem teurem, schwerem Papier. Ich drehe ihn um. Auf der Rückseite steht in einer krakeligen Handschrift: Herrn Otto Hoffmann.
Sofort beschleunigt sich mein Puls. Wieso ist der Brief an mich adressiert und was steht darin, dass Mutter so traurig macht? Mit zittrigen Händen hole ich den Brief aus dem Umschlag, entfalte ihn und beginne zu lesen:

Aufforderung

1. Aufgrund des Wehrdienstgesetztes haben sich alle deutschen Jungen der Jahrgänge 1922/1923 zur Dienstleistung mehrerer Wochen sofort

Am Dienstag, den 25. Juni 1940 um 12.00 Uhr im Rathaus bei Herrn Lütker einzufinden.

2. Diese Aufforderung ist bei ihrer Meldung vorzuzeigen.

3. Soweit vorhanden sind mitzubringen: Ihre Papiere, Wäsche, feste Stiefel, Wolldecke, Ausweiskarte, Dienstanzug und Lichtbild.

4. Nicht Befolgung dieser Aufforderung wird bestraft.

General der 6. deutschen Armee

F. Paulus

Fassungslos starre ich auf das Papier und lese immer und immer wieder die Zeilen, in der Hoffnung irgendetwas zu entdecken, was darauf hindeutet das sie sich geirrt haben und nicht ich sondern jemand anderes gemeint ist, obwohl ich weiß, dass dies nicht sein kann.
Zitternd lasse ich die Hand, mit der ich den Brief halte, sinken. Ich kann es nicht fassen. Vor Angst schnürt sich mir die Kehle zu und nur mit Mühe kann ich die Tränen zurückhalten. Ich soll in die Armee, im Krieg kämpfen, unschuldige Menschen töten oder selbst getötet werden. Ich will noch nicht sterben! Aber wie kann es sein, dass sie jetzt schon wieder neue Leute in die Armee einbeziehen? Vor nicht einmal sechs Monaten hatten sie doch die Jahrgänge 1920/1921 in die Armee mit einbezogen, wozu auch mein Nachbar und Freund Tom Kassel gehörte. Ich kann mich noch genau daran erinnern wie er sich von mir verabschiedet hat, darum bemüht die Tränen zurück zuhalten.

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