3. Kapitel

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                       Otto, Juni 1940

Mein kleiner Bruder Paul öffnet mir die Tür und sieht mich freudestrahlend mit seinen großen Kulleraugen an, als er mich erblickt. „Otto, du musst dir unbedingt das Bild angucken das ich für Papa gemalt habe.", plappert er fröhlich los. „Klar mach ich das. Das sieht bestimmt super aus.", sage ich zu ihm und wuschle mit einer Hand durch seine widerspenstigen blonden Locken, die mal wieder in alle Richtungen abstehen. Er ergreift meine andere Hand und zieht mich hinter sich her zu seinem Zimmer.

In seinem Zimmer sieht es schon wieder so aus, als hätte dort ein Tornado gewütet. Überall auf dem Boden verteilt liegen Stifte und Papier herum. Mutter wird ausrasten wenn sie das hier sieht, denke ich mir. „Wie wäre es mal mit aufräumen?", frage ich ihn. „Mhm.", kommt nur von ihm zurück während er anfängt in einem Haufen Papier nach seinem Bild zu suchen. „Das würde nach 10 Minuten sowieso wieder so aussehen. Was wird das eigentlich?", ertönt Lisbeths Stimme hinter mir. Ich hatte sie bis jetzt gar nicht bemerkt. „Stimmt!", ruft Paul von irgendwo unter seinem Bett. "Lis, bleib da. Ich möchte dir mein Bild für Papa zeigen. Ich hab es gleich gefunden."

„Das veranstaltet ihr hier also.", lächelt sie. Ich nicke nur. „Otto, es tut mir leid wegen heute morgen, dass ich dich so angeschrien habe. Es war nicht so gemeint.", wendet sie sich an mich. „Entschuldigung angenommen. Aber das sind wir ja von dir gewohnt. Du keifende alte Schachtel.", grinse ich sie an.

Noch ehe ich mich versehe rammt sie mir ihren Ellenbogen leicht in die Seite. „Genau das meine ich.", sage ich, mit gespielt, leidender Stimme, lasse mich auf den Boden nieder sinken und halte mir die Seite. „Stell dich nicht so an, du Weichei." Kommt prompt von ihr mit einem Lächeln zurück, während sie mich am Arm wieder nach oben zieht.

„Ich habe es gefunden!", ertönt Pauls Stimme. Stolz hüpft er, mit seinem Bild in der Hand wedelnd, auf uns zu. „Hier! Guckt!", weißt er uns an und wedelt mit dem Bild hin und her. Ich gehe in die Knie genau wie Lisbeth, um mir das Bild anzusehen. „Halt doch mal still. Ich kann nichts erkennen.", meint Lisbeth und hält Pauls Hand fest damit er endlich still hält. Erwartungsvoll sieht dieser uns an. „Und wie findet ihr es?"

Für einen sechsjährigen ist das Bild ganz gut gezeichnet. Paul hat unsere Familie gemalt. Wir alle, Strichmännchen ähnelnd, stehen darauf vor unserem Haus und es scheint die Sonne. In der Mitte kann man Mama und Papa erkennen die sich an den Händen halten. Papa trägt seine Wehrmachtsuniform. Gleich daneben hat er sich selbst gemalt, wie er auf dem Pony Zuckerschnute sitzt, das unserer Tante auf dem Land gehört. Neben ihm, unter unserem alten Apfelbaum, stehen Lisbeth und ich.

Wir alle lachen auf diesem Bild. Es erinnert mich an die Zeit bevor der Krieg angefangen hat. Als Vater noch nicht im Krieg war und ich noch nicht diesen Brief bekommen hatte. Apropos Brief, ich habe Lisbeth und Paul noch nichts davon erzählt. Augenblicklich zieht sich mein Magen, bei dem Gedanken an den morgigen Tag, zusammen. Ich werde es ihnen später sagen. Ich will diesen Augenblick, die fröhliche Stimmung jetzt nicht zerstören. Schnell schüttle ich die Gedanken an Morgen ab und betrachte das Bild genauer.

Lisbeth kann man besonders gut erkennen, da Paul auch den gelben Judenstern, den Lisbeth seit Jahren tragen muss, auf ihr Kleid gemalt hat. Ich hoffe, dass sie sich dadurch nicht gekränkt fühlt.

Meine Familie behandelt sie nicht anders als die anderen von uns. Jedoch gibt es genug Menschen die Juden hassen und ihnen an allem die Schuld geben. Lisbeth wurde auf ihrer Schule oft von ihren Lehrern und ihren Mitschülern gedemütigt und geschlagen. Freunde hatten sich urplötzlich von ihr abgewandt und so getan als würden sie sie nicht kennen. Daraufhin hatte Mutter sie von der Schule genommen um ihr solche Situationen in Zukunft zu ersparen.

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