48. Kapitel - Ergotherapie

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Ich betrat den hellen Raum. In der Mitte stand ein mit Zeitung bedeckter Tisch, auf dem überall Farbkleckse und kleine Kunstwerke zu sehen waren. An jedem freien Ort standen Farben und Pinsel herum. „Ah, wie schön dass du pünktlich bist, Ema!" Ich dreht mich um. „Da legen wir hier sehr Wert drauf. Wer zum Essen zu spät kommt hat natürlich am meisten Probleme, aber auch wir, die Therapieleiter, legen großen Wert auf Pünktlichkeit.", beendete sie ihren Vortrag. Ich hob langsam meinen Kopf zu einem Nicken und senkte ihn ganz langsam wieder. „Nun. Setz dich doch erstmal. Wir machen das immer so, dass die Patienten zuerst wild mit dem anfangen können, was sie gerne machen wollen. Dann können wir während dem Arbeiten besprechen wie man fortfahren kann. Einverstanden?", fragte sie euphorisch. Ich setzte mich steif auf eine der Holzbänke. „Wir haben zur Auswahl Ölfarben, Acrylfarben, Wasserfarben, Holzfarben... oder was ganz anderes: wenn du möchtest kannst du irgendetwas mit Ton kreieren. Was meinst du?", fragte sie und stellte mir alle möglichen Utensilien vor die Nase. Ich hob den Kopf. „Eheerm... ich denke ich würde gern was aus Ton machen.", erwiderte ich und beobachtete, wie die Leiterin alles wieder wegräumte und dann aufstand um mir kurze Zeit später einen Tonklumpen vor die Nase zu legen. „Hier drin findest du nötiges Werkzeug und dort drüben", sie zeigte auf ein Waschbecken, „kannst du dir Wasser holen um die Oberfläche schön glatt streichen zu können." Ich nickte und starrte den Klumpen einfallslos an. „Darf ich auch eine Hand formen?", fragte ich sah der Leiterin ins Gesicht. Sie nickte: „Nur zu." Ich blickte sie noch einige Sekunden an, dann wendete ich mich ab und versuchte den Klumpen zu formen. Dabei verklebten sich ständig meine Ärmel mit dem Ton. Der ehemals schwarze Stoff war an den Rändern schon rötlich gefärbt. „Kremple sie doch hoch", schlug die Leiterin vor. Ich starrte sie entgeistert an. „Du musst dich hier nicht schämen.", sagte sie etwas leiser und schaute mir tief in die Augen. Ich schüttelte den Kopf und machte verbissen weiter. Ich wurde immer genervter und schlussendlich schob ich die Ärmel ein kleines Stück nach oben, was die ersten Narben und Wunden entblößte. Ich wusste, dass die Leiterin darauf blickte und es machte mich noch wütender und genervter. Keine halbe Stunde später stöhnte ich laut auf und knetete alles wieder zu einem Klumpen. „Ich hab keine Lust mehr. Ich kann das sowieso nicht.", sagte ich und verschränkte meine Arme. „Es sah schon gut aus! Fang nochmal an. Versuch es vielleicht erstmal nur mit einem Finger. Da kommst du schneller zu einem Ergebnis.", sagte die Leiterin freundlich. Doch ich schob den Klumpen noch weiter weg von mir. Die Leiterin seufzte. „Ich weiß, dass es nervenaufreibend ist Ema. Aber ich bin mir sicher, dass du weißt, dass aufgeben bei uns keine Option ist. Also, mach weiter. Von mir aus forme etwas ganz anderes. Hauptsache du machst etwas." Ich lachte auf und schob meine Ärmel komplett nach oben, um die Leiterin zu provozieren. Auch wenn ich genau wusste, dass sie sich dadurch nicht provozieren lassen würde, ärgerte es mich, als sie nicht reagierte. Ich schnaubte verächtlich und langte nach dem Ton. Lustlos begann ich darauf herumzudrücken und formte letztendlich eine Pistole. Das schien der Leiterin dann doch nicht so zu gefallen: „Warum hast du das gemacht?", fragte sie mich und deutete dabei mit ihrem Blick auf die halbwegs erkenntliche Pistole. Ich grinste sie an und strich ein paar mal mit nassen Fingern über die Oberfläche. „Es steckt so viel hinter dieser Pistole. Man kann damit erschrecken, man kann damit Straftaten begehen, Menschen töten, sich selbst töten. Und noch viel mehr. Eine Pistole kann ein Symbol sein. Ein Symbol für Krieg.", sagte ich so überzeugend wie möglich, auch wenn ich das gerade alles aus dem Stegreif gegriffen hatte. „Magst du Pistolen?", fragte die Leiterin und überschlug ihre Beine. Ich wiegte meinen Kopf hin und her. „Nicht so, wie manche Menschen sagen, dass sie Tiere mögen." Die Leiterin nickte. „Bist du fertig? Dann stell ich das zum Trocknen." Ich hob die Arme, wie als würde sie mich mit einer Waffe bedrohen und sah ihr zu, wie sie im Nebenraum verschwand. Als sie zurückkam, betrachtete ich das spitze Werkzeug. Es war vermutlich nicht schärfer als eine Rasierklinge, um ehrlich zu sein wirkte es eher etwas stumpf, nach jahrelanger Benutzung. Dennoch weckte es in mir das eingeschlafene Verhalten der Selbstverletzung. Ich bekam eine unglaubliche Sehnsucht und war froh, als die Leiterin mir das Werkzeug wegnahm. Nicht, weil ich Angst hatte mich zu verletzen. Sondern weil die aufsteigende Sehnsucht immer unerträglicher wurde.
„Wenn du dir die Hände gewaschen hast, kannst du gehen. Du wirst den Weg zurück doch finden, oder?", fragte die Leiterin und beobachtete meine Handgriffe. Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass sie meine Wunden inspizierte und es ärgerte mich. Doch ich ließ mir nichts anmerken, trocknete meine Hände ab und zog die Ärmel wieder über meine Finger. „Sicher werde ich den Weg finden." Damit öffnete ich die Tür und trat auf den Flur. Das würde eindeutig nicht meine Lieblingstherapie werden.

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