56. Kapitel - nicht so schwierig

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Als ich den Flur entlangging, sah ich im Eingangsbereich eine Person, die meinem Vater sehr ähnlich sah. Er diskutiere mit einem der Ärzte. Als ich näher kam sah ich, dass es sich bei der Person tatsächlich um meinen Vater handelte. „Dad?", flüsterte ich glücklich. Er wirbelte herum und sofort wich der Zorn aus seinen Gesichtsmuskeln. Er kam auf mich zu und umarmte mich. Der Arzt griff verärgert ein: „Ema sollte keinen Besuch empfangen! Das haben wir Ihnen mitgeteilt!" Mein Vater ließ mich los. „Das ist meine Tochter und ich habe das Recht, sie zu sehen! Außerdem hat sie doch schon zugenommen! Wann darf sie nach Hause?" Ich wurde rot. Es war ihm aufgefallen, dass ich mehr geworden war. War das jetzt schlecht? Sollte ich wieder abnehmen? War ich zu dick? Der Arzt räusperte sich: „Ja, Ihre Tochter hat schon zugenommen. Es fehlen aber noch einige Kilos bis sie tatsächlich aus dem gefährlichen Bereich raus ist."
„Wie viele Kilos?"
„Das kann man so nicht sagen, es ist ja nicht nur das Gewi-..."
„Wie viel muss sie noch zunehmen?! Wann darf ich sie nach Hause holen?!"
„Sieben Kilo. Mindestens."
Ich riss die Augen auf. Niemals würde ich sieben Kilo zunehmen! Aber andererseits wollte ich unbedingt nach Hause.
„Ich hole sie ab, wenn sie fünf Kilo mehr wiegt."
Damit ging er einfach, ohne eine Wort und ohne sich von mir zu verabschieden. Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten und wich dem Blick des Arztes aus.
„Überleg bitte gut, was du mit dir machen lässt.", sagte der Arzt, drehte sich um und ging davon.
Konnte mein Vater mich denn einfach so hier raus holen? Außerdem... Fünf Kilo... Das hörte sich immer noch so verdammt viel an!
Fassungslos starrte ich die Tür an, durch die mein Vater gegangen war. Fünf Kilo und ich dürfte für immer da durch gehen. Das konnte doch nicht so schwierig sein!
Ich nahm mir fest vor, ganz viel zu essen und beim Wiegen so gut es geht zu schummeln.

Als ich in meinem Zimmer ankam, blickte ich auf den Therapieplan. Zwar konnte ich ihn mittlerweile auswendig, und meine Vermutung, dass gleich Gruppentherapie stattfand bestätigte sich, doch ich bevorzugte es, mich immer noch zu vergewissern. Es würde heute die erste Gruppentherapie mit den Neuen sein. Normalerweise konnte ich diese Art der Therapie nicht leiden, weil ich es hasste vor mehreren über meine Gefühle und Probleme zu sprechen, doch heute freute ich mich drauf, wodurch ich auch verdrängte, dass ich morgen früh wieder gewogen werden würde. Ich wollte einfach nur noch hier raus, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es das richtige war, wenn ich mit meinem Vater nach Hause gehen würde. Wie würde meine Mutter reagieren? Ich hatte sie seit dem Abend, an dem ich auf der Brücke stand und springen wollte nicht mehr gesehen- geschweige denn mit ihr telefoniert. Das versetzte mir schon einen kleinen Stich ins Herz, doch ich straffte die Schultern und verließ das Zimmer wieder, auf dem Weg zum Therapieraum.
Einige Patienten waren schon da und saßen schweigend auf ihren Stühlen. Unter anderem Sophie. Doch von Zoe war keine Spur. Ich ging um den Stuhlkreis herum und setzte mich neben Sophie, die mich angrinste. Die restlichen Patienten kamen, unter anderem Zoe. Sie blieb unsicher stehen und blickte sich um. Ich deutete ihr an, sich neben mich zu setzen und sie lächelte mich dankbar an. Sophie beugte sich zu mir rüber: „Kennst du die?" Ich flüsterte: „Ja, sie teilt sich mit mir ein Zimmer. Sie ist aber auch neu, wie du."
Der Therapeut betrat den Raum und die vereinzelten Gespräche verstummten. „Heute begrüßen wir recht herzlich zwei neue Mitpatienten! Das heißt, wir stellen uns heute alle erst einmal vor und dann erzählt jeder ein bisschen was über sich, dass die Neuen euch kennenlernen können und andersherum! Ich fange an und gebe dann das Wort an Sophie weiter, im Uhrzeigersinn, sodass Ema die Letzte ist. Also, mein Name ist Mark und ich arbeite seit zehn Jahren mit Kindern zusammen, die psychisch oder auch körperlich erkrankt sind. Seit zwei Jahren bin ich nun in dieser Klinik hier und ich wünsche mir, dass ihr alle glücklich in ein neues Leben startet, wenn ihr hier entlassen werdet. Und ich werde euch dabei unterstützen. Habt ihr Fragen an mich?" Schweigen. Mark lachte. „Gut, dann gebe ich das Wort weiter an Sophie. Bitte." Sophie räusperte sich und knetete nervös ihre Finger. „Hi, ähm, ja ich bin Sophie, ich bin sechzehn Jahre alt und habe seit sechs Jahren Magersucht. Ich bin neu hier und war davor in einer anderen Klinik.", sagte sie dann. Ihre Stimme klang wunderschön. Trotzdem, dass sie so nervös war klang sie fest und sicher. Mark lächelte. „Wenn du möchtest kannst du ein bisschen erzählen, wo du herkommst, wie es in der Schule war, deine Hobbys- alles was dir einfällt!" Sophie nickte. „Ich komme aus Amerika, bin aber hier in Deutschland geboren und wohne nur eine Ortschaft weiter. Ich habe eine Zwillingsschwester und wir sind gemeinsam auf eine Realschule gegangen. Dieses Jahr wäre mein Abschlussjahr gewesen, aber Lena, so heißt meine Schwester, wird ihren Abschluss ohne mich machen, weil ich ja hier bin. Ich war ziemlich gut in der Schule und es hat mir auch Spaß gemacht. Meinen Abschluss mache ich dann, sobald es mir besser geht und ich entlassen werde." Sie machte eine kleine Pause. „Meine Hobbys sind Fußball spielen, was ich aber aufgrund meiner Krankheit nicht mehr ausführen kann und Klavier spielen. Das kann ich zum Glück immer noch tun." Sie blickte den Therapeuten erwartungsvoll an. Der nickte ihr zu und frage: „Habt ihr Fragen an Sophie?" Ein Junge meldete sich: „Ist deine Schwester auch magersüchtig?" Sophie errötete. Dann lachte sie zaghaft: „Nein, ihr geht's super." Der Junge nickte und senkte seinen Arm wieder. So stellten sich der Reihe nach alle vor, ich kannte sie alle schon. Als Zoe an der Reihe war, horchte ich wieder auf. „Hey, also ich heiße Zoe und ich wurde nach meiner Großmutter benannt.", Zoe hatte wieder dieses unglaublich stolze Funkeln in ihren Augen. „Ich bin zwölf Jahre alt, aber viele halten mich für älter.", stimmt, ich hatte sie auf vierzehn geschätzt. „Ich wohne ungefähr zweihundert Kilometer von hier entfernt und bin hier, weil diese Klinik sehr gut sein soll. Meine Familie ist ziemlich reich und ich habe sozusagen jeden Wunsch erfüllt bekommen. Nur ersetzt Geld keine Liebe. Mein Vater arbeitet sehr viel und seine Frau auch. Meine Mama ist vor zwei Jahren gestorben, aber ich habe Papas Frau auch sehr lieb. Eine Art Ersatzmama habe ich in meiner Großmutter gefunden. Aber leider kann sie mich hier nicht besuchen kommen. Ich möchte für sie gesund werden. Ich habe Depressionen und das hier ist mein erster Klinikaufenthalt. Ich gehe auf ein privates Gymnasium, aber besonders gut bin ich da nicht. Ich würde viel lieber auf eine öffentliche Schule gehen, aber das lässt mein Papa nicht zu. Meine Hobbys sind reiten und lesen. Außerdem bin ich im Cheerleading, aber nur weil meine Mama immer wollte, dass ich das mache. Mein Trainer sagt, ich sei talentiert, aber mir macht das gar keinen Spaß." Mark nickte. „Danke Zoe. Ema, bitte." Ich blickte auf. „Ich heiße Ema, ich bin siebzehn Jahre alt und wohne etwa zwanzig Minuten von hier entfernt. Ich bin wegen meiner Essstörung hier und...-" Ich wurde von Zoe's triumphierendem Schrei unterbrochen: „Ha, wusste ich's doch!!" Mark legte sich einen Finger auf die Lippen. „Sscht, Zoe bitte. Keine Kommentare, Fragen kannst du ihr stellen, wenn sie fertig ist." Ich räusperte mich: „Äähh... ja ich bin wegen Magersucht hier und...", ich traute mich nicht, auszusprechen, dass ich mich selbst verletzte. Mark übernahm für mich: „Ema ist hier, weil sie suizidale Absichten hatte und sich regelmäßig selbst tiefe Wunden zugefügt hat. Ema ist sehr sensibel, also bitte denkt ein wenig darüber nach, was ihr zu ihr sagt. Dennoch ist sie kein rohes Ei, man kann ganz normal mit ihr umgehen. Ema, bitte. Mach weiter." Ich war rot geworden, doch Zoe schwieg zu meiner Erleichterung. „Ich hatte eine jüngere Schwester, aber die ist an Leukämie gestorben. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens bei meinem Onkel gelebt. Meine Hobbys sind, ääh, waren Basketball spielen." Zoes Hand schnellte nach oben und noch bevor sie aufgerufen wurde, brabbelte sie bereits drauf los: „Ich möchte nicht mit Ema in einem Zimmer sein. Es stört mich, dass sie sich selbst verletzt. Ich kann sie nicht leiden." Ich blickte sie verletzt an. Mark atmete überrascht ein: „Nun, dich kann keiner zwingen, mit ihr in einem Zimmer zu sein, aber du bist nicht einmal eine Woche hier. Bist du nicht der Meinung, dass es noch ein wenig zu früh ist, über deine Mitpatienten zu urteilen?" Zoe trollte sich. „Meinetwegen.", sagte sie dann.
Da die Zeit der Therapie schon seit fünf Minuten um war, verabschiedete Mark sich von uns und Sophie und ich verließen gemeinsam den Raum.

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