Sweater Weather

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Meine Hand schnellt unter der behaglich warmen Decke hervor und schlägt mit der Fläche so lange auf das ohrenbetäubend nervtötende Piepsen, bis sie den Knopf gefunden hat, der dem Ganzen ein Ende setzt und das gleichmäßig wiederkehrende, schrille Geräusch durch ein müdes Rauschen in der Gegend meines Kopfes ersetzt, wo sonst in wacheren Momenten mein Hirn aktiv ist.
Genau so ein Moment folgt schlagartig, nachdem ich genervt aufstöhne, mir quer durchs Gesicht reibe, gähne und zum ersten Mal auf meinen Wecker sehe: 7:47. Ich habe verschlafen. Scheiße.

Diese Erkenntnis lässt mein besagtes Hirn anspringen und meine Beine dazu verleiten, aus dem Bett heraus zu plumpsen und zu meinem Kleiderschrank zu torkeln, diesen aufzureißen und festzustellen, dass ich keine Ahnung habe, was ich anziehen solle. Bei einem raschen Blick nach draußen, nach dem ich annehmen muss, dass es nach wie vor viel zu kalt für den eigentlichen Sommer ist, greife ich nach der erstbesten Jeans und stülpe mir einen ausgeleierten Hard Rock Café-Pullover über den Kopf, während ich ins Bad eile und mir daraufhin kühles Wasser ins Gesicht klatsche, um mich endgültig wach zu kriegen.
Meine von der Nacht zerwühlten Haare mache ich kurzerhand in einem Zopfband zusammen und trage nach einem regelrechten Zähneputz-Sprint noch schnell eine beliebige Lippenpflege und ein wenig hellen Concealer auf, bevor ich noch einmal zurück in mein Zimmer husche, dort meinen zum Glück schon gepackten Rucksack greife und die Treppen hinunter stürme.

Ich werfe ein "Morgen" in die Küche und schnappe mir zeitgleich eine Banane und einen Apfel, die ich mir in den Rucksack werfe und den Reißverschluss zuziehe.
Mein Blick fliegt über die Küchenzeile und den Wohnzimmertisch, bevor ich meinen Schlüssel finde und in die Tasche der Lederjacke stecke, die ich mir überwerfe.
Mir entgeht dabei nicht der Blick meines Vaters, der genüsslich Kaffee trinkend und Zeitung lesend am Tisch sitzt und grinsend beäugt, wie ich alles in dreifacher Geschwindigkeit tue, während ich in ein Paar Chucks schlüpfe und die Schnürsenkel in die Seiten stopfe.
"Viel Spaß in der Schule.", wünscht er mir lediglich schmunzelnd, doch bevor ich die Tür aufreiße, habe ich definitiv noch Zeit, um ihm mit einem nett gemeinten Augenrollen und genervtem Blick zu antworten; was pubertierende Mädchen eben so tun. Dafür ist immer Zeit.

Während ich unsere Straße hoch renne und nach wenigen Metern bereits aus der Puste bin, komme ich zu der bitteren Erkenntnis, dass ich dringend mal wieder Sport treiben muss. Ich beschließe, Sof zu einem Fitnessstudio zu zwingen.
Doch schließlich komme ich fast an der Bushaltestelle an und bringe mit Winken während des finalen Sprints und einem zuckersüßen Lächeln den grummligen Fahrer dazu, auf mich zu warten.
Ich lasse mich erleichtert und keuchend und wahrscheinlich ziemlich unelegant auf einen der staubigen Sitze fallen und spüre mein Herz fast bis zum Hals pochen, während meine Atmung sich langsam nicht mehr anhört wie die eines lungenkranken Nilpferdes.
Ich krame mein iPhone aus der Jackentasche und stecke mir die passend weißen Kopfhörer in die Ohren, während ich meinen Kopf gegen das kühle Glas der Fensterscheibe sinken lasse. Bei einem Blick auf die andere Seite des dreckigen Busfensters, an dem der dagegen prasselnde Regen waagerecht vorbei läuft und die grauen Straßen dahinter verschwimmen lässt, entscheide ich mich schnell für Sweater Weather und drücke auf "Play".
Ich schließe meine Augen, ziehe den Saum meines Pullovers ins Gesicht, rieche den Duft des Waschmittels und lausche der sanften Melodie, bis der Bus schließlich mit quietschenden Rädern und ächtzender Bremse vor meinem Schulgebäude zum Halten kommt und ich mit den paar anderen Schülern, die auch auf den letzten Drücker kommen, aussteige.
Ich schlurfe durch den Mittelgang auf das Zimmer meines Mathelehrers zu und husche auf meinen Fensterplatz in der zweiten Reihe, gerade noch rechtzeitig, als es zur ersten Stunde dongt. Etwas stolz muss ich grinsen, ich dachte schon, ich könnte nie wieder damit angeben, dass ich noch nie in meinem Leben zu spät zur Schule erschienen bin. Ja, tatsächlich, jetzt dürft ihr alle staunen.
Ich bin ebenfalls erstaunt, dass Herr Meier noch nicht an seinem Pult sitzt und uns weniger als halbherzig im neuen Schuljahr Willkommen heißt.
Nach Vollendung meines inneren Mir-selbst-auf-die-Schulter-klopfen, spüre ich eine Fingerkuppe auf meine Schulter tippen und drehe mich zu Sofie um.

"Du verschläfst am ersten Schultag?", fragt sie rhetorisch, während sie mich von oben bis unten mustert und ich frage mich, ob man mir das denn so unglaublich offensichtlich ansieht. Bevor ich irgendwas sarkastisches erwidern kann, höre ich jedoch die Tür aufschwingen und der Beinahe-Rentner betritt den Raum mit seinem überaus sympathischen und motivierten Genuschel eines "Guten Morgen"s.
Er stemmt seine abgeranzte Ledertasche auf dem Pult ab und öffnet den Knopf seines Jackets, um die Fäuste in die nicht vorhandene Hüfte zu stemmen und seinen in ein viel zu enges Hemd verpackten Bierbauch zu präsentieren. Spätestens jetzt ist meine zumindest halb vorhandene Motivation für den ersten Schultag verflogen. Auf der Skala "Wie sehr ich Lehrer hasse" von 1 bis Meier steht Herr Meier ganz oben.
"Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass sie einen neuen Mitschüler in ihrer Klasse haben." Er deutet auf die noch immer offene Tür, in der nun eine Silhouette auftaucht und mein Herz in die Hose rutschen lässt.
Sofie entweicht tatsächlich ein "Ach du heilige Scheiße.".

Seine Augen treffen augenblicklich auf meine und krallen sich in diesen fest. Alles um ihn herum schrumpft und wirkt grau und winzig klein.
Johnas.

Manches ändert sich nie.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt