Wherever I go

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"Ist das...?"
Ich schlucke mühsam, bevor mir meine Kinnlade noch herunterklappt. Als Antwort auf Sofies Geflüster nicke ich stumm vor mich hin.
Ja, er ist es, unverkennbar. Aber wieso ist er hier? Was veranlasst ihn dazu, auf einmal wieder aufzutauchen? Was soll das alles, verdammt?
Ich nehme nur noch wage war, wie er sich an einen Platz etwas weiter hinter mir setzt, Herr Meier unverzüglich mit einem neuen Thema anfängt und alle anderen ihre Bücher aufschlagen. Doch wie auch die ganze restliche Doppelstunde, bin ich nicht im Stande, viel anderes zutun, als auf die erste leere Seite meines aufgeschlagenen Heftes und meine aufgestützten Arme zu starren und mir einzubilden, seinen durchdringenden Blick auf meinem Rücken ruhen zu spüren, den ich auf keinen Fall erwidern werde.
Zum Glück lässt mich Herr Meier heute verschont und so kann ich ohne weitere Probleme feststellen, dass ich auf keine einzige dröhnende Frage in meinem Kopf eine zufrieden stellende Antwort finde.
Das Klingeln zum Ende der zweiten Stunde wäre in meinen Gedanken untergegangen, hätte mich Sofie nicht von meinem Platz und auf den Flur Richtung Mensa gezerrt.

"Seit wann wusstest du, dass er in unsere Klasse kommt?", will sie mit diesem neugierigen Ausdruck in ihren blauen Augen wissen, der mir nur allzu bekannt ist.
"Ich wusste es nicht.", antworte ich abwesend im Gehen und lege einen Schritt zu, in der Hoffnung, sie somit abzuschütteln, was natürlich mehr als unrealistisch ist.
"Und dass er wieder da ist? Seit wann ist er überhaupt wieder da?" Die Fragen sprudeln nur so aus ihrem kleinen Mund und brennen auf eine Antwort, doch da muss sie sich hinten anstellen.
"Keine Ahnung.", gebe ich fast schon genervt zurück und hoffe still, dass sie nun verstanden hat, dass ich genau so viel Ahnung hatte, wie sie selbst und vermutlich alle anderen und genauso wenig darüber reden will, wie das ganze vergangene Jahr. Nur eine Sekunde später werde ich enttäuscht; "Und wieso-" - "Sof, ich habe keinen Schimmer. Ich weiß genau so viel, wie letztes Jahr um diese Zeit, da hat sich nichts verändert und ich habe leider keine super coolen und geheimen Insider-Infos für dich, also hör auf, mich mit deinen Fragen zu löchern und frag' ihn doch einfach selbst, wenn es dir so wichtig ist.", unterbreche ich sie in einem ziemlich zickigen Unterton, der mir gleich im nächsten Moment unglaublich leid tut.

Eigentlich bin ich nicht so leicht aus der Haut zu bringen und versuche, alles immer möglichst ruhig und erwachsen aus der Welt zu schaffen, doch wenn es um ihn geht, ist es eben etwas anderes. Das war es schon immer und erstrecht nach der ganzen Sache vor einem Jahr.
Überrascht bleibt sie kurz stehen und sieht mich ausdruckslos an, doch geht direkt danach weiter, diesmal schweigend, wofür ich ihr danke, neben mir her in die Mensa, wo wir unsere Freistunde verbringen wollen.
Wir setzen uns gegenüber an einen der langen Holztische und sie kramt eine kleine Bürste aus ihrer Longchamp, mit der sie sich wiederholt durch die langen, blonden Haare fährt, bevor sie ebenfalls einen Spiegel zückt und ihren rosa Lipgloss nachträgt.

Wenn man Sofie so von außen sieht und nicht so kennt, wie ich es tue, hält man sie sicherlich schnell für eine dieser aufgetakelten Tussen, die außer den neusten Trends aus Hollywood, den aktuellen Beziehungsproblemen von Brangelina und den Jungs aus sämtlichen Sport-AGen weder was im Kopf, noch was auf dem Kasten haben.
So circa wie man von mir häufig denkt und wie diese ganzen Halbstarken, die noch kein Wort mit mir gewechselt haben, meinen ihre Vermutung verkünden zu müssen, dass ich irgendwie reserviert, kalt oder vielleicht sogar etwas bösartig bin.

Es stimmt zwar, dass Sofie auf ihr Äußerliches recht viel Wert legt, doch mehr, als das makellose Aussehen hat sie dann auch mit den Vorzeige-Blondinen unserer Stufe nicht gemeinsam; sie ist gut in der Schule, engagiert, witzig und meine beste und einzige Freundin seit Grundschulzeiten. Nein, vielmehr eine große Schwester mit großartigen Schminktipps, die ich nie hatte. Sie kennt mich in und auswendig, so, dass es manchmal schon fast gruselig ist und sie weiß, meine Sticheleien nie so gemeint sind.

Ich sehe gedankenverloren Richtung Tür, durch die Johnas wie selbstverständlich genau in diesem Moment geschlendert kommt.
Ich muss wohl zusammengezuckt sein oder ähnliches, da Sofie von ihrem Taschenspiegel auf- und von ihren Wimpern absieht.
"Hannah? Was ist los?" Da ich nicht antworte, dreht sie sich selbst um zu Johnas, der sich in die andere Ecke der fast leeren Cafeteria setzt. Diesmal sehe ich nicht weg, als sein moosfarbener Blick an mir haftet. Ich kann nicht.

Er hat sich kaum verändert. Seine dunkelbraunen Haare sind zwar ein wenig länger und er hat vielleicht etwas abgenommen, doch diese Grübchen und den verträumten Ausdruck hätte ich auch erkannt, wenn wir uns zehn Jahre und nicht 'bloß' eins nicht gesehen hätten.
"Geht es dir gut?", fragt Sof behutsam, doch nicht behutsam genug, um mich nicht erneut aufschrecken zu lassen, und streicht mir über den Arm, weshalb mein Blick wieder auf sie fällt. Ich zucke die Achseln. Gute Frage.

"Weißt du, die ersten Wochen habe ich die ganze Zeit gehofft, das wäre ein schlechter Scherz gewesen. Aber als ich realisiert habe, dass er nicht so schnell wiederkommt, war ich einfach nur noch verletzt und irgendwie... wütend. Ich hab' mich hintergangen gefühlt." Sie nickt verständnisvoll.
"Es wäre leichter, wäre er einfach weg geblieben.", schlussfolgert sie und ich weiß nicht, ob ich ihr so einfach zustimmen kann, sie hat ihn schließlich nie gemocht.
"Es verging kein Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe. Es hätte nicht viel geändert.", überlege ich und stütze mein Kinn mit der Handfläche. Sofie holt Luft, um etwas zu erwidern, doch da klingelt ihr Handy.

"I know I could lie but I'm telling the truth." Sie sieht aufs Display und entschuldigt sich kurz, als sie 'rangeht und sich ein paar Schritte entfernt.
Ich sehe nach draußen, wo es immer noch regnete, um nicht Johnas ansehen zu müssen und lasse die Stimme Ryan Tedders in meinem Kopf einfach weiterlaufen, als hätte Sofie nicht abgehoben.
"I know I could lie but I'm telling the truth, Wherever I go there's a shadow of you.
I know I could try looking for something new, But wherever I go, I'll be looking for you."

Manches ändert sich nie.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt