Kapitel 2

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Durch den Fahrtwind schien die Luft noch eisiger zu werden und meine Ohren fühlten sich an, als müssten sie gleich abfallen. Ich grummelte leise Flüche über das Wetter vor mich hin, während ich fest in die Pedale trat. Das sollte hier also der Sommer sein?
Mit meinen Eltern war ich an vielen viel schöneren und vor allem wärmeren Orten gewesen. Warum musste meine Tante von allen Plätzen, die es auf der Welt gab, ausgerechnet hier leben? Harvest Hill, allein der Name des Dorfes triefte nur vor Unkreativität.
Mit meinem Fahrrad sauste ich durch eine Wohnhaussiedlung nach der anderen, vorbei an Spielplätzen, großen Supermärkten und fuhr danach durch eine kleine Altstadt. Das Kopfsteinpflaster schüttelte mich unangenehm durch und meine Zähne schlugen bei jedem Hüpfer leicht aneinander.
Ich schüttelte den Kopf, einmal um zu verhindern, dass mir meine Kapuze von Kopf geblasen wurde und dann, weil ich einfach nicht verstehen konnte, warum hier jemand wohnen wollen sollte. In so einem durchschnittlichen, langweiligen Städtchen, das an irgendeinen gut bürgerlichen, spießigen Vorort erinnerte. Einem so langweiligen Ort, dass man hier selbst meine Tante als schrillen Vogel bezeichnen würde.
Auch wenn ich jetzt schon zwei Monate in dieser kleinen Stadt lebte, ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, wie unspektakulär hier alles war. Das war ich einfach nicht gewohnt. Und vor allem der Gedanke, dass dies hier nun mein Zuhause war oder zumindest sein sollte, fühlte sich an wie ein Fremdkörper.
Ich fühlte mich hier an wie ein Fremdkörper. Auch wenn es mir sonst eigentlich nie schwer gefallen war, mich irgendwo anzupassen.
Mittlerweile war ich an der Schule angekommen. Noch war nicht besonders viel los. Ich kam immer extra ein bisschen früher, wenn noch nicht so viele Leute da waren, so blieb man unauffälliger. Dafür hatte ich mittlerweile den perfekten Zeitpunkt herausgearbeitet.
Immer schön unter dem Radar fliegen, was mir jedoch trotz meiner Taktik nur mittelmäßig gelang, schließlich war ich auch nach mehreren Wochen den Titel als die "Neue" immer noch nicht los.
Im Grunde war irgendwo neu zu sein, eigentlich etwas das ich schon zur genüge kannte, schließlich war ich mit meinen Eltern immer häufig unterwegs gewesen und war dort auch häufig in neue soziale Gefilde geworfen worden. Aber damals waren die Umstände und mein Antrieb immer andere gewesen und so war es mir wesentlich leichter gefallen, mich anzupassen. Denn mein Ziel war nie die Anpassung selbst gewesen.
Vor dem Schulgebäude war ein großer relativ unspektakulärer Pausenhof, auf dem vereinzelt ein paar Bäume standen, unter denen Bänke aufgestellt waren. Im Sommer war das bestimmt etwas Schönes, wenn man sich bei Hitze und praller Sonne unter den Baum in den kühlen Schatten setzen konnte...
Diesen Sinn würde es zumindest haben, wenn sich sommerliches Wetter hier nicht in Temperaturen nahe dem Nullpunkt, stürmischen Böen und heftigen Regenschauern äußern würde.
Ich befestigte mein Fahrrad an einem der Fahrradständer, die am Rande des Hofes standen, und schloss es ab. Zwar war es sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand dieses klapprige Teil stehlen würde, aber wenn jemand wusste, dass Vorsicht besser als Nachsicht war, dann war das definitiv ich.
Das Schulgebäude selbst war ein großer, kastenförmiger, in sterilem Weiß gehaltener Bau. Es gab vier Stöcke und in den unteren beiden, wo die jüngeren Klassen unterrichtet wurden, hingen gebastelte Blumen und ähnliches in den Fenstern.
Ich lief über den Platz und steuerte auf die großen gläsernen Eingangstüren zu, über denen ein weinrotes Vordach hing, auf dem in großen Lettern der Name der Schule stand, "Harvest Prep".
Als ich eine der Türen schwungvoll öffnete, schlug mir warme Luft entgegen. Ich trat in die große Eingangshalle und langsam fing ich an wieder ein Gefühl in den Ohren zu bekommen, wenn diese auch höllisch brannten.
Ohne lange Herumzustehen machte ich mich sofort auf den Weg in den dritten Stock, wo ich meine erste Stunde Geographie verbringen durfte.
Ich begegnete nur sehr wenigen Schülern bei meinem Aufstieg, erst als ich mich im Klassenzimmer auf meinen Platz sinken ließ, begrüßte mich jemand den ich "kannte".
"Hallo Tammy!", fröhlich klopfte mir meine Banknachbarin auf den Rücken.
"Morgen Anna", erwiderte ich weit weniger enthusiastisch, "Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich Mara genannt werden will?"
"Tut mir leid, Tam... äh, Mara", meinte sie und fuhr sich aufgeregt durch ihre dünnen, aschblonden Haare, "Aber ich finde 'Tammy' ist einfach die gewöhnlichere Abkürzung für Tamara. 'Mara' ist so... Das klingt einfach wie ein Name und kein Spitzname!"
"Ich weiß...", entgegnete ich in einem genervten Singsang, "Aber genau das ist ja auch der Sinn..."
Anna erzählte mir noch irgendwas davon, was sie gestern Nachmittag alles gemacht hatte, doch ich hörte nur halbherzig zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es besonders spannend war, denn Anna war genauso durchschnittlich wie ihr Name.
Als ich neu gewesen war, hatte sie mich unter ihre Fittiche genommen mehr als mir lieb gewesen war und jetzt war sie davon überzeugt, dass wir Freunde waren.
Aber ihre Integrationsversuche waren mir durchaus recht. So konnte ich mich in Pausen oder bei sonstigen Anlässen, wo ein einsames Auftreten eher unangenehm wäre, immer zu ihr und ihrer Clique gesellen.
Allerdings hatte es mich einige Mühe gekostet, ihr und ihren Freundinnen abzugewöhnen, mich zur Begrüßung immer umarmen zu wollen und stattdessen war Anna mittlerweile auf den Rückenklopfer umgestiegen. Nur eben das mit meinem Namen hatten die Damen immer noch nicht so ganz verstanden.
"Also, Mari, willst du nochmal Geo mit mir durchgehen? Ich bin sicher, die fragt heute mehrere Personen aus", meinte Anna und schob mir auffordernd ihr Geographie-Heft zu.
"Mara", korrigierte ich sie unwirsch, dann warf ich aber etwas versöhnlicher einen Blick in das Schulheft und wandte mich der Globalisierung zu. Ich stellte Anna ein paar Fragen, die sie meist mehr schlecht als recht beantworten konnte, während immer mehr unserer Mitschüler langsam eintrudelten.
Das Lernen in der Früh war der einzige Grund, warum Anna immer bereits vor mir in der Schule war. Nachmittags und abends war sie scheinbar immer so voll geplant, dass sie kaum Zeit für Schulzeug fand. Was an ihren sicherlich unspektakulären Aktivitäten so viel Zeit in Anspruch nahm, war mir zwar ein Rätsel, aber das war für mich soweit in Ordnung, dass zwei Mädchen, die in der Früh Schulstoff wiederholten, ein normales Bild an einer Schule waren.
Der Schulalltag tröpfelte dahin, doch für mich war er gewiss weniger schlimm als für so manch andere. Da ich schon sehr lange keine richtige mehr Schule besucht hatte, sondern von meinen Eltern zu Hause oder wo auch immer wir gewesen waren, unterrichtet worden war, hatte ich wohl noch den schulischen Enthusiasmus und Ehrgeiz eines Erstklässlers.
Doch trotz meines guten Willens der ganzen Situation gegenüber konnte ich machen Dingen, denen ich eigentlich abschwören wollte, einfach nicht widerstehen. Diese dicht gedrängten Schülermassen um mich herum und all diese Menschen waren so unachtsam... da kam ich manchmal einfach nicht umhin meinem kleinen Tick nachzugehen...
Manchmal musste ich einfach im Vorbeigehen in eine Hosentasche greifen oder etwas aus einem Rucksack ziehen, während ich jemanden anrempelte.
Es waren nur Kleinigkeiten, meist sogar ohne Wert, und ich steckte sie danach natürlich immer wieder sofort zurück oder tat so, als seien sie den Schülern herausgefallen oder sie hätten sie vergessen, aber dennoch... Wenn man seinen alten Sünden immer noch anheim fiel, konnte man einfach nicht richtig mit der Vergangenheit abschließen und genau das wollte ich doch unbedingt!
Der Taschendiebstahl war ein Teil von mir, den nichtmal meine Eltern gut geheißen hatten und das bedeutete schon etwas. Es war ein Spiel von mir, das ich einfach nicht lassen konnte, auch wenn es wohl das Schlechteste gewesen war, das ich aus meiner Vergangenheit in mein neues, gewöhnliches Leben hätte mitbringen können.
Nach Schulschluss verabschiedete ich mich auf den Pausenhof von Anna und ihren Freundinnen und unterdrückte den Drang einer von ihnen ihr vollkommen ungeschütztes Smartphone aus der Tasche zu ziehen. Ich begegnete allen vieren zwar regelmäßig, aber im Gegensatz zu Anna, mit der ich fast jeden Kurs gemeinsam hatte, hatte ich mit ihren drei Freundinnen kaum etwas zu tun und ohne Anna hätte ich wohl auch keinen Kontakt zu ihnen.
Ich stieg auf meinen Drahtesel und strampelte wieder los. Diesmal allerdings nicht nach Hause zu meiner Tante, nein, ich schlug einen anderen Weg ein, ich wollte zum Busbahnhof.
Der Weg war nicht weit und dort angekommen, stellte und sperrte ich mein Fahrrad wieder ab, bevor ich in einen der wartenden Linienbusse stieg. Ich hielt meine Monatskarte hoch und der Fahrer nickte mir zu, mittlerweile kannte er mich schon.
Dann ließ ich mich auf den Platz direkt hinter dem Busfahrer fallen, stellte meinen Rucksack neben mich und holte ein belegtes Brötchen raus, das ich in der Schule am Pausenverkauf gekauft hatte. Mit meinem eigenen Geld natürlich...
Herzhaft biss ich hinein.
Ein paar andere Jugendliche betraten den Bus, viele davon mit Ohrenstöpseln in den Ohren, die Musik so laut, dass selbst ich sie noch zu einem schrecklichen, scheppernden Beat verzehrt hören konnte.
Ich hatte eine lange Fahrt vor mir und auch ich hätte mir die Zeit mit Musik vertreiben können, aber davon hielt ich nichts. Ich war allgemein kein besonders großer Fan moderner Musik, ich hörte lieber die alten Klassiker oder die ganz alte Klassik. Diese Musikrichtungen waren mir nunmal von meinen Eltern vermittelt worden.
Aber auch diese Musik hörte ich nicht, wenn ich unterwegs war. Denn im Gegensatz zu anderen wollt ich mich nicht in der Musik verlieren oder weg driften, bis ich mein Ziel erreicht hatte. Nein, ich wollte alles um mich herum wahrnehmen, jedes Geräusch, jede Bewegung. Und wenn es nur das Zusteigen weiterer Passagiere war.
Ich hatte mir das angewöhnt und mittlerweile wurde ich ganz unruhig, wenn ich Dinge in meiner Umwelt nicht mitbekam.
Der Bus setzte sich in Bewegung und ich wippte mit den Füßen auf und ab. Ich war ein wenig nervös und aufgeregt. Meine Eltern hatte ich nun schon ein paar Wochen nicht mehr besucht, weshalb ich etwas ein schlechtes Gewissen hatten.
Aber sie waren nun mal das, was mich von den anderen unterschied, und jedes Mal, wenn ich sie sah, erinnerten sie mich an die Vergangenheit, erzählten Geschichten von der guten alten Zeit.
Mit solchen Eltern würde ich niemals normal sein können. Dennoch war es meine Pflicht als Tochter ihnen beizustehen und außerdem konnte ich auch nicht leugnen, dass ich mein altes Leben ein bisschen vermisste. Nicht nur einfach, weil es viel aufregender war und ich mehr von der Welt gesehen hatte, sondern auch weil ich dort das Gefühl hatte, eine Aufgabe zu haben und einen Platz, an den ich hingehörte.
Momentan dümpelte ich im trüben Wasser herum, versuchte irgendwie mich einzufügen und trotzdem gehörte ich nicht wirklich dazu. Vielleicht strengte ich mich nicht genug an oder verhielt mich noch zu distanziert anderen Menschen gegenüber. Vielleicht lag es auch an der leichten Überheblichkeit, die ich den "normalen" Menschen gegenüber empfand, einfach weil sie niemals so viel erlebt hatten könnten, wie ich es mit meinen 18 Jahren bereits getan hatte.
Doch ebenso wie meine Kleptomanie, war es nicht leicht, solche alten Gewohnheiten abzulegen und sich von Grund auf zu ändern. Ich konnte so tun, als würde ich irgendwo dazu gehören, mich anpassen, aber nicht mich vollkommen ändern.
Irgendwann stoppte der Bus und ich sprang nach draußen auf den Gehsteig. Ich atmete einmal tief durch und die kühle Luft füllte meine Lungen, dann machte ich mich mit zügigen Schritten auf den Weg.
Ich befand mich nun in einer wesentlich größeren Stadt, als dem Kaff, in dem meine Tante lebte, und so musste ich mich mehrmals durch größere Ansammlungen von Menschen schlängeln.
Wieder kribbelte es in meinen Fingern, aber ich unterdrückte den Drang, etwas mitgehen zu lassen. Ich hatte das Gefühl, je näher ich meinen Eltern kam, desto lieber wollte ich in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Vielleicht war es ihr schlechter Einfluss oder einfach die Tatsache, dass meine Nostalgie, je mehr mir bewusst wurde, dass ich nicht in die Vergangenheit zurück konnte, wuchs.
Um diese Gedanken zu verdrängen betrachtete ich lieber eingehend meine Umgebung. Leeds war eine schöne Stadt und im Vergleich zu Harvest Hill eine wahre Metropole, doch nichts zu so manchen Städten, die ich bereits besucht hatte. Städte wie Tokio, New York, Rom, Berlin, Paris, London, Hongkong ... die Hauptstädte der Welt durch die das Leben förmlich pulsierte.
In solchen Städten musste man gar nicht versuchen nicht aufzufallen. Egal was man tat, man war immer nur ein kleiner Punkt in der Masse an Menschen.
Ich ging am städtischen Krankenhaus vorbei, gleich war ich an meinem Ziel angekommen.
Es war wohl etwas merkwürdig ein Gefängnis so nah an ein Hospital zu bauen, aber vermutlich war es sehr nützlich, wenn ein paar verzweifelte Insassen versuchten, sich die Pulsadern aufzuschneiden, oder jemand in eine Gefängnisprügelei geriet.
Mich schauderte, als ich daran dachte, dass dieses Schicksal auch meine Eltern ereilen könnte. Wie um möglichst schnell sicher gehen zu können, dass es den beiden gut ging, beschleunigte ich meine Schritte noch mehr, sodass ich fast schon rannte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 12, 2018 ⏰

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