Die Bühne

10 0 0
                                    

>Lassen wir die Formalitäten beiseite und kommen direkt zum

eigentlichen Thema. Sie wissen alle, warum ich hier bin. Ich möchte ihnen

mein Buch vorstellen. Ein Buch über alles und nichts. Ein Buch ohne

Namen. Ein Buch ohne Autor, ohne Inhalt und ohne Identität.< Er lächelte

selbstgefällig, genoss die Stille und hob letzten Endes demonstrativ sein

Werk in die Höhe. Von außen war es vollkommen schwarz. Er öffnete es.

Die Seiten: leer. Kein Zeichen, kein Bild - nur endloses Weiß.

>Sicherlich möchten sie nun wissen, warum jemand sich für leere Blätter

interessieren sollte. Aber dieses Buch scheint nur inhaltslos - es dient der

Symbolik. Auf den ersten paar Seiten steht der gesamte Text. Ich werde

es ihnen einfach vorlesen, dann verstehen sie mehr...

Ich saß vor dem weißen Blatt. Keine Linie, keine Unebenheit, kein

Anhaltspunkt. Meine Hände zitterten. Was sollte ich nun tun? Etwas

zeichnen? Schreiben? Mich ausdrücken? Welchen Sinn hätte das? Ich

würde sie doch nur zerstören. Diese perfekte, weiße Leere. Diese

unendlichen Möglichkeiten.

Wenn ich wählte, war ich nicht mehr frei. Ich war gebunden an meine

Entscheidungen. Ich war gefangen in meiner Identität - meinem eigenen

Werk.

Doch wenn ich nichts auf das Blatt schrieb, es unberührt liegen ließ, so

standen mir alle Möglichkeiten offen. Dieses Gefühl der Freiheit konnte

ich ausdrücken, indem ich nichts tat. Mich bewusst gegen das Handeln

entschied, um nicht durch dieses beschränkt zu werden.

Es gab durchaus genug Themen, mit denen ich mich gerne beschäftigt

hätte:

"Die Illusion der eigenen Identität."

"Die Qual, sich zu beschränken."

"Der Wille, eigene Entscheidungen zu treffen."

"Und das kritische Hinterfragen, ob auch dieser Wille eine eigene

Entscheidung ist."

Ich erkenne, dass ich frei bin wenn ich nichts tue. Und dennoch liebe ich

es, mich zu entscheiden. Ich liebe meine eigenen Gedanken. Doch die

Leistung meines Gehirns ist begrenzt. Ich kann unmöglich alles zugleich

abdecken. Und so schränkt mich die Wahl meiner Gedanken ebenso ein,

wie die Erschaffung meiner Identität - wie ein Strich auf dem weißen

Papier.

Glück bedeutet nicht frei zu sein. Glück bedeutet seine Freiheit zu nutzen.

Aber...

Aber kommen wir nun zum nächsten Buch. Einem mit Inhalt. Einem mit

Namen und Autor. Vielen Dank.<

Ehrlichkeit - Thadeus StadelmannWhere stories live. Discover now