Kapitel 6

13 2 2
                                    


Als Amilia am nächsten Morgen aufwacht, saß sie noch immer in der Bibliothek, umgeben von aufgeschlagenen Büchern. Erst jetzt bemerkt sie, dass Meister Lenoldus ebenfalls im Raum war. Er sortiert und ordnet leise seine Bücher vor sich hin. "Haben Sie gut geruht?", fragte er, ohne sich umzudrehen.

"Ja, doch mein Kopf war so voll von Gedanken, dass es mir schwerfiel zu schlafen."

"Ja, ja... sicher wegen der Entscheidung, nicht wahr? Ich weiß, ich sollte Euch zu nichts drängen und doch tue ich es. Diese Gemeinschaft braucht Euch. Ihr mögt Eure Wichtigkeit bei der Reise vielleicht noch nicht ganz verstehen, aber ich versichere Euch, sie ist es und früher oder später werdet Ihr auch erfahren warum. Doch nur, wenn ihr Euch anschließt, denn sonst wird sich nie die Möglichkeit dazu bieten."

"Aber ich kann doch nicht einfach gehen. Meine Familie, meine Freunde sind hier."

"Bitte, Amilia, wir wissen beide, dass Ihr Eure Familie nicht liebt und kaum Freunde habt, von denen eine Trennung schmerzhaft wäre. Ich kann Euch nicht zwingen, aber bitten: Ihr werdet gebraucht. Außerhalb von Orkengen mehr als innerhalb. Und tut nicht so, als wenn es Euch nicht reize, dieses Abenteuer, diese Fremde, das Neue und die Abwechslung, diese Flucht aus den Zwängen, die Begierde nach Wissen."


Wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreiche, so sagte ihr der Graf am gestrigen Tag, würden alle Mitglieder der Gemeinschaft zusammenkommen, um den Vertrag zu unterzeichnen - den Vertrag der Reise. Sie würden von überall herkommen. Aus ganz Orkengen, aber angeblich auch einige von außerhalb. Und das Ziel ist das Zeichnen einer Karte von Arkengen, so nennen sie alle das Land, von dem Orkengen nur ein Teil sein soll, um zu beweisen, dass es dieses gibt, um zu beweisen, dass der König alle belügt. Nur Amilia wusste immer noch nicht, was sie tun sollte. Lenoldus hatte Recht, aber dennoch schien es irgendwie absurd, einfach zu gehen und alles zurückzulassen, einfach mit Fremden zu verschwinden...

Der Saal war bereits voll, als Amilia ihn betrat. Ihr kam eine Welle an Stimmen entgegen. An einer langen Tafel saßen Menschen unterschiedlichstem Aussehen. Viele sahen wie normale Bewohner des Tales aus, doch sie entdeckte auch einen Zwerg, einer hatte eine Haut wie aus Gold und ein anderer wie aus Obsidian, der nächste war sehr hochgewachsen mit langen grauen Haaren, eine Frau hatte spitze Ohren und schmale Augen in einem stechenden Lila und eine andere hatte Blumen in ihren gepflochtenen Locken und ein Kleid wie aus Blätten gemacht. Zögerlich setzte sich Amilia auf einen der wenigen freien Plätzen, nicht weit von dem erhöhten Kopf der Tafel, auf dem der Graf mit Leonard und einer jungen Frau saß, die sie bisher noch nie gesehen hatte.

Sie hörte eine Zeit dem fremden Klang der Stimmen zu und schaute sich alle genau an, als der Graf aufstand und sich räusperte. Er hielt eine kurze Ansprache, sprach noch einmal über das Vorhaben und schickte schließlich den Vertrag herum. Alle unterzeichneten, bis er schließlich am Ende bei ihr ankam. Sie las alles und konnte doch nichts von dem Geschriebenem aufnehmen. Doch dann musste sie an die Worte von Lenoldus denken, nahm die Feder, tunkte sie in die Tinte und unterzeichnete.

Den restlichen Abend wurde gefeiert und gespeist. Erst blieb Amilia schüchtern am Rand, doch dann überstieg ihre Neugier ihre Angst und sie sprach so vielen wie möglich. Sie hörte sich Geschichten an von dem Zwerg Tyroy, der von den Goldminen erzählte, in denen er mit seinen Brüdern gearbeitet habe, von Diamanten in allen Fraben des Regenbogens und Drachen mit schillernden Schuppen, die von einigen geritten werden wie Pferde. Sie sprach auch mit der Frau mit den lilanen Augen. Diese lebte in den Wäldern der Amaren, den Heilern, den Weisen, den Elfenähnlichen.

So sprach sie mit einigen, erfuhr etwas über Arkengen und wurde immer glücklicher über ihre Entscheidung. Selbst mit Leonard sprach sie und bekam sogar einige Antworten. Und dennoch störte sie seine vornehme, hochmütige Art und sein perfektes Lächeln erst recht. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie trotzdem ein merkwürdiges Gefühl, als sie ihn mit der jungen Frau - sie hieß Zara wie sie herausfand - tanzen und später zusammen verschwinden sah.

Es war ein langer Tag und als sie spät in der Nacht wieder in ihrem Bett lag, dachte sie über alles nach. Sollte sie noch einmal nach Hause? Sich verabschieden? Oder einfach wegreiten?

Cynthia wird mich davon abhalten wollen, wird mich zwingen wollen, da zu bleiben. Doch was ist mit Dan? Ich kann nicht einfach so gehen, vielleicht nie wieder zurück kehren...

Sie beschloß, am nächsten Tag einen Ritt zu ihrem Vater zu machen. Zudem konnte sie dann noch ein paar ihrer Sachen mitnehmen. Besorgt schlief sie ein. Sowohl Cynthia als auch der Abschied bereiteten ihr Sorge.

ArkengenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt