Kapitel 1

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Geschichte war das Hassfach von Kilian. Nie lernte man was Interessantes. Untergegangene Zivilisationen und Hochkulturen wurden höchstens in einer Doppelstunde thematisiert. Dafür kaute man Jahre lang den zweiten Weltkrieg durch, weil es ja die Schuld der Deutschen war und so etwas nie wieder passieren darf. Das stimmte zwar und das Thema war auch durchaus interessant, aber man kann doch nicht die ganze Schulzeit darauf verwenden. Spätestens nach der vierten Stunde, in der man darüber sprach, war jedem klar, dass Hitler ein Spinner gewesen ist und ziemlich viel Scheiße gebaut hat. Selbst die nicht so Hellen hatten das begriffen. Viel spanneneder wäre es doch zu lernen, wie Hochkulturen zu Grunde gegangen sind und wie weit sie zu diesem Zeitpunkt entwickelt waren. Daran würde man zumindest lernen, dass die Menschheit nicht unsterblich ist und dass dieser Untergang bevorsteht, wenn man nichts ändert.
Der Lehrer schien jedoch nicht seiner Meinung zu sein und hielt weiterhin mit voller Motivation einen Vortrag über das Leben in den Konzentrationslagern. Ein Thema was bereits mindestens zehn Stunden lang bearbeitet wurde. Kilian war kurz davor einzuschlafen, als das Klingeln des Schulgongs ihn erlöste. Blitzschnell warf er seine Sachen in den Ranzen und stand bereits wenige Sekunden später vor dem Klassenraum. Er wandte sich nach links in Richtung des Ausgangs. Mit zügigen Schritten erreichte er ihn und trat an die frische Luft. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er senkte den Kopf um nicht geblendet zu werden. Sofort bekam er gute Laune und begann zu pfeifen. Es war Freitag und er hatte die Schule hinter sich. Endlich hatte auch er frei. Seine Freunde waren alle schon nach der vierten Stunde nach Hause gegangen, weil ihr Religionslehrer krank war. Das war voll unfair. Seine Lehrer waren nie krank. Kilian verließ das Schulgelände und ging in Richtung des Endes der Straße. Wie immer herrschte ein riesiges Verkehrschaos, weil alle Fünfer von ihren Eltern abgeholt wurden und irgendein Trottel auf die Idee gekommen war, eine Schule in eine Sackgasse zu bauen. Es war doch klar wozu das führen würde. Aber für Kilian war das kein Problem. Er bog am Ende der Sackgasse in einen Feldweg, der nur für Fußgänger zugänglich war. In zehn Minuten würde er Zuhause sein. Langsam vor sich hin schlendernd und die Sonne genießend, fragte er sich ob er heute überhaupt etwas gelernt hatte. Außer dem Zusatzkurs Geschichte hatte er noch Mathe, Deutsch und Biologie gehabt. Rückblickend konnte er sagen, dass er tatsächlich nichts Neues gelernt hatte. Eigentlich sollte es ihm nichts ausmachen, weil sie ihren Stoff durch hatten und so Zeit hatten um für die Abiturprüfungen zu lernen. Nur der Geschichtskurs machte noch normalen Unterricht. Das war ja mal wieder klar. Aber die Schule langweilte ihn. In zwei Wochen waren Osterferien und danach kamen die Prüfungen. Und dann, dann war es geschafft. Nie wieder Schule. Nur leider hieß das für die Osterferien nichts anderes als lernen. Egal, jetzt konnte er entspannen und das Wochenende genießen. Heute war es das erste Mal sonnig und die Temperaturen lagen endlich über fünfzehn Grad. Der Winter war zwar nicht kalt gewesen, aber ekelhaft grau und nass. Jetzt wieder Sonne zu spüren, war ein unglaublicher Genuss. Auf den Feldern an denen er vorbeikam, sahen es die Kühe genauso. Sie sonnten sich und rissen eifrig Gras aus. Ein Anblick, der aus einer Werbung für irgendeinen Käse hätte sein können. „Unsere glücklichen Kühe geben die leckerste Milch der Region. Das macht unseren Käse so einzigartig und gesund.“ Kilian musste schmunzeln. Das klang beinah wirklich nach einem Werbespot. Vielleicht sollte er Werbeslogan -Dichter werden. Leider waren die meisten Werbungen wirklich so schlecht und er hätte bestimmt Chancen in der Branche gehabt. Aber er wollte lieber Programmierer oder sowas Ähnliches werden. Sein Traum war eigentlich später mal einen Film zu drehen oder an einem mitzuwirken. Also nicht nur als Statist sondern als jemand der den Film kreativ mitgestaltet. Leider hatte er kein nennenswertes schauspielerisches Talent oder etwas Vergleichbares. Deswegen wollte er vorerst Programmierer werden und seinen Traum als Hobby weiterverfolgen. Programmieren konnte er zumindest und wenn er sich etwas anspart, konnte er ja vielleicht später tatsächlich mal ein großes Projekt anfangen. Kilian war klar, dass das alles nur ein weit entfernter Traum und dazugehörige Hirngespinste waren, aber er hielt trotzdem daran fest. Irgendein Ziel musste man schließlich haben. Ansonsten stand man nach der Schule da und wusste nicht wohin jetzt. Der Hälfte seiner Freunde ging es so. Die meisten hatten sich für ein Jahr im Ausland oder ein freiwilliges soziales Jahr entschieden um die Zeit, in der sie überlegten, zu überbrücken. Allerdings glaubte Kilian bei den meisten nicht daran, dass das passieren würde. Sein bester Freund Simon zum Beispiel würde sich nie entscheiden. Stattdessen würde er anfangen irgendetwas zu studieren und es auch durchziehen aber nicht  glücklich damit sein. Der Staat sorgte dafür, dass jeder Zugang zu Bildung hat. Er verpflichtete einen sogar dazu diese Möglichkeit zu nutzen, aber danach wurde einem nicht mehr geholfen. Man wurde alleingelassen und musste sich mit tausenden Möglichkeiten auseinandersetzen ohne, dass man Ahnung von irgendetwas hatte. Das Problem der Jugendlichen war heute nicht mehr, dass sie keine Bildung und damit keine Möglichkeiten hatten, sondern das sie eine unglaubliche Zahl von Möglichkeiten hatten aber nicht wussten was sie wollen oder besonders gut können. Der Staat hatte für gute Bildung gesorgt, aber dabei nicht alle Kosten und die daraus resultierenden Folgen bedacht. Wer zur Schule ging war von morgens bis mindestens mittags, eher sogar bis abends nicht Zuhause und konnte so keine Interessen entwickeln. Dadurch hatte kaum einer eine Ahnung was er später machen wollte. Das Problem konnte man nur durch kürzere Schultage oder Angebote innerhalb der Unterrichtszeit lösen. Doch das hieß man hatte weniger Zeit für den normalen Schulstoff. Also müsste man die Schulzeit auf vierzehn Jahre verlängern, aber das wäre der absolute Horror. Sowas konnte man niemandem zumuten.
Mit solchen gesellschaftlichen Problemfragen setzte sich Kilian gerne auseinander. Er grübelte oft Stunden lang über sowas nach und entwarf komplexe Theorien und Systeme um das Problem zu lösen. Oft scheiterte er am Ende oder hatte nicht genügend Informationen um sinnvoll weiterzudenken. Aber manchmal erschuf er neue Möglichkeiten, die aus seiner Sicht umsetzbar waren. Diese Entwürfe müsste natürlich noch jemand überprüfen, aber dazu würde es niemals kommen, weil Kilian alles für sich behielt aus Angst man würde ihn belächeln. Während er weiter nach Hause lief, dachte er weiter über dieses Problem nach. Doch er fand keine Möglichkeit, die er als vertretbar einstufte. Als er stolperte, weil er mit dem Fuß an der Kante, der plötzlich anfangenden Asphaltschicht, hängen blieb, merkte er erst wie tief er in Gedanken versunken war. Er war schon fast Zuhause und konnte sein Haus bereits sehen.  Es stand am Rand einer kleinen Ortschaft und war ein schlichtes kleines Haus mit einem Vorgarten. Das Tollste an dem Haus war der Garten dahinter, den man allerdings von der Straße nicht sehen konnte. Er bestand aus einer riesigen Wiese und war umgeben und durchzogen von Beeten mit allen möglichen Blumen. Es war ein Ort der Ruhe und des Entspannens. Der perfekte Ort zum Nachdenken und für das Lösen von gesellschaftlichen Problemen. Genau dieser Garten war Kilians Ziel. Er hielt auf das Tor im Zaun des Vorgartens zu und kramt den Schlüssel für die Haustür hervor. Als er wieder aufblickte, sah er einen Vogel auf dem Zaun sitzen. Kilian blieb stehen und betrachtete den Vogel. So einen hatte er noch nie gesehen. Ähnlich wie ein Papagei besaß er buntes Gefieder, allerdings hatte er die Größe eines Spatzes. Seine Hauptfarbe war ein strahlendes Blau, dass von einem Weinrot durchzogen wurde. Der Bauch war jedoch grüngelblich und der kleine Schnabel hatte ein sattes Orange. Durch diese Farbmischung fiel der Vogel extrem auf und schien nicht zu seiner Umgebung zu passen. Der Vogel selbst schien auch verwirrt. Er schaut sich die ganze Zeit um und schien sich zu fragen was er hier machte. Schließlich flatterte er davon und verschwand in Richtung des Feldwegs. Kilian blickte ihm hinterher und fragte sich ob sich jemand einen Scherz mit einem armen Spatz erlaubt hatte. Doch irgendwas außer den Farben, hatte nicht zu einem Spatz gepasst. Ein wenig verwirrt öffnete Kilian das Gartentor und durchquerte den Vorgarten um die Haustür aufzuschließen. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, wurde ihm bewusst was so komisch war. Der Schnabel war zu lang und außerdem gebogen gewesen. Fast so wie bei einem Adler. Aber für einen Raubvogel war er zu klein gewesen. Für einen so kleinen Vogel wäre jedoch auch ein so buntes Gefieder nicht vorteilhaft. Katzen würden direkt aufmerksam und auch vor anderen Feinden könnten sie sich nur schwer verstecken. Ein äußerst merkwürdiger Vogel. Kilian öffnete die Tür und warf seine Sachen neben die Garderobe. Während er seine Jacke auszog, beschloss er nach dem Vogel zu googeln. Also joggte er die Treppe hoch in sein Zimmer und holte sein Laptop vom Schreibtisch. Zumindest wollte er das. Doch sein Laptop war schwarz und da sein Schreibtisch direkt vor dem Fenster stand, hatte die Sonne die ganze Zeit auf den Laptop geschienen. Er hob ihn hoch und warf ihn sofort auf das Bett, welches neben dem Schreibtisch stand. Die Decke polsterte den Fall ab, sodass dem Computer nichts passierte. Kilian wedelte kurz mit seinen Händen durch die Luft um sie abzukühlen, aber so schlimm war es nicht. Er entschied sich den Laptop etwas abkühlen zulassen und solang seinen Schreibtisch aufzuräumen. Darauf hatte sich ein Haufen Unterlagen für die Abiturprüfungen angesammelt. Er sortierte sie nach den unterschiedlichen Fächern legte die kleineren Stapel ordentlich in das oberste Fach seines Regals, das neben der Tür stand. Anschließend drehte er sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ihm gegenüber stand ein nun ordentlicher Schreibtisch, rechts daneben sein Kleiderschrank, bei dem er beschloss ihn nicht aufzumachen, da das Zimmer gerade ordentlich war. Das Bett auf der linken Seite des Schreibtischs, war ein wenig unordentlich durch seinen Wurf mit dem Laptop. Er erklärte das Zimmer für aufgeräumt oder zumindest für „ordentlich genug“ und schnappte sich den Laptop, der inzwischen kühl war. Das nächste Mal würde er ihn nicht in der Sonne stehen lassen. Während er nach unten ging überlegte er was er jetzt machen würde. Als Erstes musste ein Eis her. Es war zwar nicht heiß, aber der erste schöne Tag des Jahres musste gefeiert werden. Und dann würde er sich auf einen Gartenstuhl zwischen die Blumen, mitten in die Sonne setzen. Auf dem Weg zum Kühlschrank legte er den Laptop auf dem Küchentisch ab. Im Eisfach lag Nuss-, Vanille- und Erdbeereis. Hin und hergerissen zwischen Nuss und Vanille schloss er die Augen, griff in das Fach und zog das Erste was er zufassen bekam heraus. Natürlich handelte es sich um Erdbeereis. Also legte er es zurück und wiederholte den Vorgang. Diesmal hatte er ein Nusseis in der Hand und zwischen Mittel- und Zeigefinger hatte sich die Spitze eines Vanilleeises verfangen. Dann musste er wohl beide essen. Wie schade. Mit den zwei Eis ging er zur Terrassentür und öffnete sie. Sofort hörte man lautes Vogelgezwitscher und Kilian musste wieder an den Vogel denken. Er wollte ja googeln, aber wo war der Laptop? Suchend schaute er sich um. Ah, da auf dem Küchentisch war er. Als er den Laptop nahm hörte er ein lautes Zwitschern aus der Gästetoilette im Flur. Er lauschte und stellte, gleichzeitig Laptop wieder zurück. Das Zwitschern erklang wieder. Langsam näherte er sich dem kleinen Raum neben der Treppe nach oben. Als er vor der Tür stand erklang das Zwitschern nochmals. Vorsichtig öffnete er die Tür und wollte gerade das Licht einschalten um mehr zusehen, als ihm genauso ein Vogel wie auf dem Zaun gesessen hatte, entgegen kam. Erschrocken machte Kilian einen Schritt rückwärts. Der Vogel  schaute sich kurz um, schien anschließend zu horchen und flog dann durch den Flur ins Wohnzimmer zur Terrassentür hinaus. Intelligent war der Vogel definitiv. Früher hatte Kilians Schwester einen Wellensittich besessen und der war immer gegen die Fenster neben der Terrassentür geflogen, weil er nicht verstanden hat, dass da Glas ist. Dieser Vogel hatte jedoch zielstrebig auf die Öffnung in der Glasfront zugesteuert, ja er war geradezu um die Glasbarriere herumgeflogen. Jetzt musste Kilian definitiv herausfinden was das für ein Vogel war. Er schnappte sich den Laptop und suchte sich den ersehnten Platz auf dem Gartenstuhl. Da fiel ihm noch etwas auf. Wie war der Vogel überhaupt in die Gästetoilette gekommen? Der Raum hatte keine Fenster und die Tür war zu gewesen. Er musste von irgendwem dort eingesperrt worden sein. Die Frage war nur ob das mit Absicht oder nur ein dummer Zufall gewesen war. Aber wie sollte man in so einem kleinen Raum einen so auffälligen Vogel übersehen? Und seinen Eltern oder seiner Schwester sah es gar nicht ähnlich ein Tier absichtlich einzusperren. Er öffnete den Browser und stand vor einem Problem. Wonach sucht man wenn man etwas nur gesehen hat? „Merkwürdiger Vogel der nicht in diese Welt zu passen scheint“? Oder “überdurchschnittlich intelligenter Vogel“? Er entschied sich als erstes nach „Vogel bunt“ zu suchen. Raus kamen dabei verschiedene Kunstwerke und ein Haufen Vögel die man von anderen Kontinenten kannte. Zum Beispiel der Tukan war sehr oft vertreten. Allerdings gab es auch eine Seite des Naturschutzbundes, die vielversprechend aussah. Leider entpuppte sie sich als eine Seite mit gewöhnlichen Gartenvögeln, wie sie jeder kennt. Am interessantesten waren die Bilder. Da gab es tatsächlich verschiedene Vögel die auch extrem farbenfroh waren. Es glich jedoch keiner dem Exemplar, das er gesehen hatte. Da das nicht zu einem Ergebnis führte, fügte Kilian der Suche noch ein „intelligent“ hinzu. Doch das führte nur dazu, dass ein Haufen Papageien und Wellensittiche angezeigt wurden. Dazwischen fanden sich auch Bilder von irgendwelchen Männern. Die sollten sich sorgen machen, wenn sie bei einer Suche mit den Stichworten „Vogel“ und „bunt“ vorgeschlagen werden. Wahrscheinlich galten sie als intelligent und durchgedreht. Aber das brachte Kilian auch keinen Schritt weiter. Er durchforstete das Internet noch eine Weile und landete andauernd auf irgendwelchen Seiten von Vogelbeobachtern, die beschrieben, wie ein Vogel pickt und weiterhüpft und wieder pickt. Total langweiliger Kram. Wie konnte man damit sein Leben verbringen? Schließlich gab er es auf und legte den Laptop zur Seite. Er schloss die Augen und genoss die Sonne. Seine Schwester war bei einer Freundin und würde erst heute Abend nach Hause kommen. Dann kämen auch seine Eltern von der Arbeit und die Ruhe wäre vorbei. Also beschloss er die Zeit zu genießen und sich zu entspannen. Er lehnt sich zurück und döste ein wenig vor sich hin.

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