Das erste Mal, dass er sie sah, war an einem Samstag gewesen. Ein ganz gewöhnlicher Samstag von so vielen Samstagen im Jahr. Es hatte geregnet an diesem Tag. Die Wassertropfen waren wie Granaten auf den Pflastersteinen explodiert und die Menschen in den Straßen verbargen ihre Gesichter unter Kapuzen und Regenschirmen, wenn sie hektisch durch die Regenschleier rannten.
Er war in die Bibliothek gegangen, da er die Gesellschaft von Büchern denen der Menschen vorzog. Bücher verurteilten ihre Leser nicht nach Aussehen oder Charakter. Bücher ließen sich von schwarzen und weißen Händen öffnen. Büchern war es egal, ob ihr Leser an einen Gott glaubte oder nicht oder ob er Männer oder Frauen liebte.
Er hatte ein Buch mit einem braunen Einband aus dem Regal gezogen. Es sah alt aus und Staub hatte sich auf den Seiten abgelagert. Am Fenster, umgeben von den hohen Bücherregalen, stand ein Sessel. Er ließ sich hinein fallen und schlug das Buch auf. Die erste Seite war zerknittert. Er strich sie mit seiner Hand glatt und begann zu lesen.
Schon der erste Satz zog ihn in seinen Bann. Er schwebte durch weit entfernte Welten, traf auf Ungeheuer und Gefahren. Die Worte hatten ihn ganz in ihren Bann gezogen, als plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, sein Lesefluss unterbrochen wurde. Er schaute vom Buch auf. Vor ihm stand eine Frau. Ihre langen braunen Haare fielen ihr in sanften Locken auf den Rücken und sie trug ein Sommerkleid trotz des Regens, der immernoch auf das Grau der Stadt niederprasselte. Dazu trug sie farblich passende High Heels, durch die sie größer wirkte als sie eigentlich war.
"Entschuldigen Sie bitte." Sie hatte eine tiefe, aber dennoch zarte Stimme, ganz anders, als er erwartet hätte. Als sie weiter sprach, erkannte er einen französischem Akzent: "Ich möchte Sie nur ungern stören, aber ich suche ein Buch." Er schaute sie nur verträumt an. Ihr Parfum erfüllte den ganzen Raum und benebelte seine Sinne. Er konnte den Geruch nicht zuordnen. "Ich suche 'Eine Weihnachtsgeschichte' von Charles Dickens." Sie lächelte ihn an und zeigte dabei ihre schönen weißen Zähne. "Ist es nicht noch ein wenig früh für eine Weihnachtsgeschichte zu dieser Jahreszeit? Es ist erst Ende September." Sie lachte. "Für mich muss nicht Weihnachten sein um eine wundervolle Geschichte zu lesen." Nun lächelte auch er. Er stand aus dem schäbigen Sessel auf und ging zu dem gegenüberliegenden Bücherregal, wo die Klassiker standen. Mit einem gezielten Griff zog er das Buch heraus. Es hatte wie das Buch, das er eben gelesen hatte, einen braunen Einband, aber es sah noch älter und verbrauchter aus. Die Frau strahlte, als sie das Buch sah und drückte es wie einen Schatz an ihre Brust. "Ich danke Ihnen." , sagte sie mit ihrer tiefen, wunderschönen Stimme. Dann drehte sie sich um und verließ die Bibliothek durch die große, hölzerne Tür und verschwand in den dichten Regenfällen.
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Giselle
Short StoryJeden Samstag sah er sie in der Bibliothek. Und jeden Samstag bezauberte sie ihn aufs neue.